Sie galt Anfang der 30er Jahre als die schönste Frau Deutschlands und war eine der gefeiertsten Schauspielerinnen der Weimarer Republik. Sie war eine der vielen Geliebten Brechts, der ihr einen Heiratsantrag machte, den sie ablehnte. Das Brechthaus in Berlin war der geeigneste Ort für die Vorstellung des neuesten Buches über Carola Neher, das vom Lukas-Verlag vorgelegt wurde. Der Raum war fast bis auf den letzten Platz besetzt, was beweist, dass es gelungen ist, Neher und ihr Schicksal dem Vergessen zu entreißen.
Annette Leo stellte den Sammelband im Gespräch mit den Mitherausgeberinnen Bettina Nir-Vered und Irina Scherbakowa vor. Ich gebe zu, dass ich ein Vorurteil gegen Sammelbände hege, aber dieser scheint eine interessante Ausnahme zu sein. Den Herausgeberinnen gelang es jedenfalls an diesem Abend, ein sehr plastisches, anrührendes Bild von Carola Neher und ihrer Zeit zu zeichnen.
Durch ihre Ehe mit dem todkranken Dichter Klabund, mit bürgerlichem Namen Alfred Henschke, war Neher früh mit dem Sterben konfrontiert worden. Als sie 1928 gerade als Polly, die Rolle hatte sie sich von Brecht erbeten, für dessen Dreigroschenoper probte, starb ihr Mann in Davos an Tuberkulose. Deshalb fand die legendäre Premiere des Stückes ohne sie statt. Neher übernahm die Rolle erst bei der Wiederaufnahme im Mai 1929. Auf YouTube kann man sie auch heute noch bewundern in einem Ausschnitt aus dem Dreigroschenoper-Film.
Mitglied der Kommunistischen Partei war Neher nie, aber links politisiert, besonders durch Brecht und ihren zeitweiligen Lebensgefährten Hermann Scherchen, der von der Sowjetunion so begeistert war, dass er auf der Marxistischen Abendschule Russisch lernte und Carola Neher dahin mitnahm. Zu ihrem Unglück verliebte sich Neher in den Lehrer Anatol Becker, den sie heiratete und mit dem sie 1934 in die Sowjetunion emigrierte. Es brachen schwere Zeiten für die Diva an, die Dienstmädchen, schöne Wohnungen und Autos gewohnt war und nun mit einem Zimmer in einer der berüchtigten Kommunalwohnungen vorlieb nehmen musste, wo sie die Küche und das Bad mit den anderen Familien zu teilen hatte. Eine bittere Erfahrung für die Frau, die einmal bekannt hatte, ihr Schönheitsrezept für die Haare seien Eier, war, Lebensmittel nur auf Karte beziehen zu können. Brecht, der sie in Moskau sah, beschreibt ihr Aussehen wenig schmeichelhaft. Sie hätte zugenommen. Das lag aber an ihrer Schwangerschaft. Sie brachte Ende 1934 ihren Sohn Georg zur Welt. Viel Zeit haben Mutter und Kind nicht miteinander verbracht. Sie gab ihren Sohn zu einer Familie in Pflege, ob Tages- oder Wochenpflege, ist nicht mehr zu ermitteln. Schon vor dem Großen Terror wurden Anatol Becker und Carola Neher im Sommer 1936 als angebliche Trotzkisten verhaftet. Neher wurde von ihrem Schauspielerkollegen Gustav von Wangenheim schwer belastet.
Becker wurde zum Tode verurteilt und erschossen, Neher bekam zehn Jahre Haft. Sie hatte noch insofern Glück, als die Folterungen des Großen Terrors erst nach ihrer Verurteilung begannen, ihr Torturen also erspart blieben.
Im Gefängnis gelang es Neher ausfindig zu machen, wo ihr Sohn sich nach der Verhaftung seiner Pflegefamilie befand. Sie schrieb an die Leiterin dieses Kinderheimes einen Brief, der ihrem Sohn nach Carola Nehers posthumer Rehabilitation durch das Militärkollegium des Obersten Gerichtes der UdSSR am 13. August 1959 übergeben wurde. Dadurch erfuhr Georg Becker mit 25 Jahren erstmals, wer seine Mutter war. Er konnte nach einer von Willy Brandt unterstützen Petition 1974 die Sowjetunion verlassen und widmete sein Leben dem Andenken seiner Mutter.
Hätte Carola Neher gerettet werden können, wenn sich insbesondere Brecht für sie eingesetzt hätte? Das ist ungewiss, aber fest steht, dass sich Brecht wenig ehrenhaft verhalten hat. Es gibt von ihm den zaghaften Versuch, Lion Feuchtwanger zu bewegen, sich nach Neher zu erkundigen und sich für sie einzusetzen, was Feuchtwanger aber nicht tat. Seinen Notizen zufolge hat Brecht noch mehrfach versucht, etwas über das Schicksal Nehers zu erfahren. Öffentlich für sie eingesetzt hat er sich nicht.
Brecht war zu dieser Zeit noch ein Stalinist. Von Hans Sahl ist folgende Begebenheit überliefrt: Als Sahl Brecht im Exil in dessen New Yorker Wohnung besuchte, bekam er das Manuskript vom Guten Menschen von Sezuan in die Hand gedrückt.
Er „fragte ein wenig ironisch, wer mit der Figur der guten Shen-te, die sich in den bösen Vetter verwandelt, weil das Gute nur überleben kann, wenn es sich als Böses verkleidet, gemeint sei: Hitler oder Stalin. “Verlassen Sie sofort meine Wohnung”, sagte Brecht, was ich jedoch nicht tat, sondern sitzen blieb und ihm erklärte: “Ich bin bereits einmal hinausgeworfen worden, aus Deutschland. Versuchen Sie es nicht noch einmal. Lassen Sie mich erst mein Glas austrinken, dann gehe ich”. Brecht verließ das Zimmer.“
Noch 1955 nahm Brecht den Stalin-Friedenspreis entgegen, den Thomas Mann vorher als „unannehmbar“ abgelehnt hatte.
Inzwischen wird auch in Russland an Carola Neher gedacht. Die Bewohner des Hauses, in dem sie in einer Kommunalwohnung wohnte, haben sich bereit erklärt, eine kleine Tafel von Memorial am Gebäude anbringen zu lassen, dass dies die letzte Adresse von Carola Neher und Anatol Becker war. Mit diesen Tafeln, vergleichbar mit unseren Stolpersteinen, will Memorial möglichst vielen Opfern des stalinistischen Terrors ein Gesicht geben.