Von Hubert Geißler
Die leider ja nicht allzu umfangreiche libertäre Szene hierzulande hat einen neuen Helden: den argentinischen Präsidenten Javier Milei, einen, nennen wir ihn, Antipolitiker, der durch durchdachte, aber für den bürgerlichen Geschmack hiesiger Politiker radikale Reden auffällt und am besten entweder als Anarchokapitalist oder Antietatist bezeichnet werden könnte. Für ihn sind grundsätzlich Steuern Raub am produktiven Individuum, und alle Formen des Sozialstaates ein von einer Compradorenbourgeoisie inszenierter Betrug an den Bürgern. Denen wird auf jeden Fall mehr genommen, als zurückgegeben, während sich die Nomenklatura eines Staates und ihre Hintertanen am Fette der Leute mästet.
Verständlich, dass das hierzulande schlecht ankommt. Im Rahmen der medialen Hexenjagd auf die Lindnersche FDP hatte dieser gewagt, Milei als erwägenswerte Position eines doch radikalen Liberalismus ins Gespräch zu bringen. Da kam er aber schlecht an, und Herr Merz, der designierte Caudillo der Republik, konterte hart: „Ich bin ehrlich gesagt völlig entsetzt gewesen, dass Christian Lindner diesen Vergleich gemacht hat. Weil das, was da zurzeit in Argentinien passiert – wir verfolgen das ja nun auch nicht jeden Tag – aber was dieser Präsident dort macht, ruiniert das Land, tritt wirklich die Menschen mit Füßen. Und das als ein Beispiel für Deutschland zu nehmen – ich muss sagen, ich bin einigermaßen sprachlos gewesen.“
Nun sind die Urteile über Milei keineswegs so eindeutig. Zwar ist seit seinem Amtsantritt die Armut in Argentinien gestiegen, aber, oh Wunder, plötzlich ist der Staatshaushalt ausgeglichen bis positiv, die Wohnungsnot geht zurück, die Produktivität steigt, und manche Ökonomen sehen schon in wenigen Jahren ein neues goldenes Zeitalter für Argentinien anbrechen.
Sogar anerkannte Medien wie die NZZ bescheinigen Milei Erfolge.
Mir stellen sich dazu zwei Fragen. Einmal, wie kam es, dass Argentinien, das noch zwischen 1880 und 1930 eines der reichsten Länder auf dem Globus war, ins wirtschaftliche Elend geraten ist? Und: Lassen sich Parallelen zu unserer bundesdeutschen Wirtschaftslage finden, die ja auch im Kern vom Zusammenbruch des bisherigen Geschäftsmodells gekennzeichnet ist?
Natürlich kann hier keine Vorlesung über argentinische Geschichte gehalten werden, das versteht sich. Aber ein paar kurze Rückgriffe in die Geschichte sind doch nötig. Nach den Befreiungskriegen gegen die Spanier, die ja auch von Argentinien selbst ausgingen, kam eine gewisse Phase der Stagnation. Die Eigentumsstruktur war deutlich vom Großgrundbesitz, den Estancias, geprägt, und Argentinien war und ist teilweise noch ein Agrarland und auch Exporteur landwirtschaftlicher Güter, vor allem Soja und Fleisch. Auf den riesigen Flächen, gerade des Südens, finden Rinder ideale Aufzuchtbedingungen.
Ab etwa 1880 kam es, sicher noch unter der Vorherrschaft Großbritanniens, zu einem stürmischen Entwicklungsprozess. Vor allem der Eisenbahnbau förderte, wie in den USA, den Aufbau einer Schwerindustrie und zog massiv Kapital an. Die Löhne in Argentinien waren um ein Vielfaches höher als zum Beispiel in Westeuropa. Viele Gebäude in Buenos Aires künden noch von dieser Prosperität um die Jahrhundertwende. Argentinien war der „place to be and to go“, eine Art von idealem Europa auf der Südhalbkugel.
Die Geschäfte liefen noch auch während des Ersten Weltkriegs sehr gut, erst die Weltwirtschaftskrise brachte einen deutlichen Einbruch, und die Zeit vor und während des Zweiten Weltkriegs ließ die traditionelle Kundschaft wegbrechen. Argentinien wurde auch in gewisser Weise abgestraft, weil es neutral geblieben war; die gewohnten Investitionen blieben aus.
Nun kam es zur Ära Perón, sicher jedem bekannt durch das Musical „Evita“. Die argentinische Gesellschaft, vor allem auch die Arbeiterklasse, war nicht bereit, die anstehenden Verluste zu realisieren und sich quasi neu zu erfinden. Perón weitete den Sozialstaat schuldenfinanziert aus, und am Ende landete man bei beinahe 60 % der Workforce im Staatsdienst, was natürlich nur durch Schulden und Gelddrucken erreichbar war. Dass das zu Inflation führte und erst recht die Verelendung beförderte, versteht sich. Immer weiter ausgedehnte Eingriffe des Staates in den Wirtschaftsgeschehen machten die Lage immer schlimmer. Eine Serie von Staatsbankrotten war die Folge, dazu kam auch noch ein verlorener Krieg um die Falklandinseln. Argentinien wurde zum dauerkranken Mann der Wirtschaftswelt und das wohlgemerkt bei eigentlich günstigen Voraussetzungen für wirtschaftlichen Erfolg.
Die Ausweitung des Sozialstaates war also durchaus eine Folge des demokratischen Prozesses, einer Weigerung der Argentinier, zumindest kurzfristig einzusehen, dass die goldenen Zeiten erst mal vorbei waren. Perón könnte man als stark verkürzt ausgedrückt als faschistischen Sozialisten kennzeichnen. Dass kurz vorher der nationalsozialistische Staat, das Italien Mussolinis und sogar die USA unter Roosevelt ähnliche Tendenzen gezeigt haben, sei am Rande erwähnt.
Die Geschichte Argentiniens ist also die eines nicht bewältigten Abstiegs oder einer nicht vollzogenen Kehre. Gerade das Beharren auf dem Niveau der prosperierenden Zeiten führte unweigerlich zu Etatismus und Abstieg.
Dass seit wenigen Jahren auch in der Bundesrepublik ein ähnlicher Prozess läuft, muss, denke ich, nicht ausführlicher ausgeführt werden: Der Verlust von verlässlichen Bezugsquellen für Energie, verbunden mit der Abkehr von vielversprechenden Handelspartnern, der Zwang zu einer destruktiven Sanktionspolitik und von Seiten der Ampelregierung immer neue Eingriffe in wirtschaftliche Prozesse mit Außerkraftsetzung von Marktprozessen, zusammen mit einer Aufblähung des Staatsapparates auf allen Ebenen bis zur EU, zeigen die destruktive Wirkung einer sogenannten wertegeleiteten Wirtschaftspolitik. Halden unverkaufter E-Autos, der Niedergang deutscher Schlüsselindustrien wie Fahrzeugbau, Chemie und Maschinenbau sprechen eine beredte Sprache.
Wir sind unweigerlich im Prozess der Argentinisierung, und wenn man das Exempel der Gauchos auf uns übertragen darf, deren Probleme in den 30er-Jahren begannen und Anfang der 50er
unabwendbar waren, dann gehen bei uns spätestens in 20 Jahren definitiv die Lichter aus. Vermutlich sogar noch schneller, wie zu erläutern sein wird.
Und was macht Milei: Ganze Ministerien mit ihren Bürokraten schließen, den Staat zurückdrängen, wo er nur kann, den inflationären Peso an den Dollar koppeln, Privatinitiative ermöglichen.
Argentinien hat viele Vorteile: Land in Hülle und Fülle, ein junge Bevölkerung die im Diagramm aussieht wie eine alleinstehende Schwarzwaldtanne, Energieunabhängigkeit, Bodenschätze. Nicht wenige Ökonomen sehen das Land in wenigen Jahren auf der Erfolgsspur, wenn sich der „Volkstribun“ Milei durchsetzt.
Und hier, wie wird das enden: Ein Beamter wird einem anderen nach Ausfüllung von 20 Anträgen einen Bezugsschein für einen argentinischen Sojabratling ausstellen. Mahlzeit oder wie der Gaucho sagt: „Que aproveche!“