Von Hans Hofmann-Reinecke
Am 7. Juni verunglückte Bill Anders im Alter von 90 Jahren. Wenn ein Neunzigjähriger stirbt, dann ist das nichts Besonderes. Wenn es aber am Steuer seines Flugzeuges geschieht, dann ist das schon außergewöhnlich, insbesondere wenn eben dieser Pilot, ein halbes Jahrhundert zuvor, eine Apollo Kapsel problemlos um den Mond gesteuert hat und nebenher noch ein paar Fotos schießen konnte. Diesem Mann verdanken wir eine der letzten „Sternstunden der Menschheit“.
Sternstunden
Immer sind Millionen Menschen innerhalb eines Volkes nötig, damit ein Genie entsteht, immer müssen Millionen müßige Weltstunden verrinnen, ehe eine wahrhaft historische, eine Sternstunde der Menschheit in Erscheinung tritt. Ereignet sich eine solche Weltstunde dann, so schafft sie Entscheidung für Jahrzehnte und Jahrhunderte.
Wie in der Spitze eines Blitzableiters die Elektrizität der ganzen Atmosphäre, ist dann eine unermessliche Fülle von Geschehnissen zusammengedrängt in die engste Spanne von Zeit. Was ansonsten gemächlich nacheinander und nebeneinander abläuft, komprimiert sich in einen einzigen Augenblick, der alles bestimmt und alles entscheidet; ein einziges Ja, ein einziges Nein, ein zu früh oder ein zu spät macht diese Stunde unwiderruflich für hundert Geschlechter und bestimmt das Leben eines Einzelnen, eines Volkes und sogar den Schicksalslauf der ganzen Menschheit.
High as a Kite
So beschreibt Stefan Zweig die Kriterien, nach denen er 14 Ereignisse aus den vergangenen zwei Jahrtausenden als „Sternstunden der Menschheit“ ausgewählt, analysiert und gewürdigt hat. Gemessen an diesen Merkmalen, welche Sternstunden sind in unserer Zeit entstanden? Welche Momente der vergangenen Jahre und Jahrzehnte könnten es an Bedeutung mit der „Weltminute von Waterloo“ aufnehmen, als Marschall Grouchy sich entschied, Napoleon in der Schlacht bei Wavre im Stich zu lassen? Ist Angela Merkels Wahl zur Kanzlerin mit diesem Ereignis vergleichbar?
Oder ist die Hommage an Robert Scott, „ Der Kampf um den Südpol“ bei dem er knapp scheiterte und ums Leben kam, vergleichbar mit Robert Habecks Kampf gegen das Klima? Oder ist die Rechtschreibreform vergleichbar mit „Georg Friedrich Händels Auferstehung“. Und welches Ereignis wäre dem „Genie einer Nacht“ ebenbürtig, dem Komponisten Rouget de Lisle, der in einer Nacht die Marseillaise erschuf?
Ich möchte Monsieur de Lisle hier das Genie einer Minute gegenüberstellen: Carlos Santana. Am 16 August 1969 sitzt er mit seiner Band zusammen, Joint im Mundwinkel, und man überlegt, welche Songs man morgen wann und wie spielen sollte. In die entspannte Stimmung platzt der Veranstalter mit der Nachricht: Carlos, ihr seid dran. Man wehrt sich dagegen, das Programm sei ganz anders, man sei nicht vorbereitet, aber der Boss sagt: „You play now or not at all“. Zwei Minuten später stehen die Kerle auf der Bühne vor 400.000 Fans, „high as a kite“, und opfern ihre Seele mit ihrer Show von „Soul Sacrifice“.
Das war im Sommer 1969. Aber kommen wir zurück zu dem eingangs erwähnten Kandidaten.
Im richtigen Moment
Der hatte ein halbes Jahrhundert zuvor seine Apollo Kapsel problemlos um den Mond gesteuert. Am 7. Juni 2024 stürzte Bill Anders mit seiner Beech T-34 in die See westlich von Seattle und kam dabei ums Leben. Was auch immer die Ursache des Absturzes gewesen sein mag, er verabschiedete sich von diesem Planeten mit Stil. Die Fotos aus seiner Hand aber machen ihn unsterblich.
Es war Dezember 1968 und es blieben noch 12 Monate bis zum Ende des 60-er Jahrzehnts. Um John F Kennedys Vermächtnis nicht Lügen zu strafen musste man bis dahin einen Mann auf den Mond und heil wieder zurückbringen. Die Vehikel für diese Reise – Saturn V Rakete und Apollo Kapsel – waren zu diesem Zeitpunkt schon diversen Tests unterzogen worden.
Die Mission Apollo 7 war der erste Einsatz des Kommando- und Servicemoduls mit Besatzung. Man umkreiste damals die Erde 163-mal und verbrachte 11 Tage im Weltraum. Das ging gut, aber es war eben nur in unmittelbarer Nähe zur Erde. Vergleichsweise war man, vor dem Eiffelturm stehend, in Kniehöhe gekreist, während der Mond 300 Metern höher war, auf der Spitze des Turms.
Am 21. Dezember 1968 startete dann Apollo 8. Es war die erste Mission, die Menschen zum Mond und zurück bringen sollte, allerdings ohne dort zu landen. Die Saturn musste jetzt alles zeigen, insbesondere ihre dritte Stufe. Es gelang. 62 Stunden nach dem Start bog die Kapsel in ihren Orbit um den Mond und umkreiste ihn dann 20 Stunden lang. In dieser Zeit gab es eine Menge zu tun; Tests der Kommunikation mir der Erde, Navigation und Kartographie des Mondbodens, und vieles mehr. Aber man hatte auch noch Zeit, um aus dem Fenster zu schauen. Da sah man nun den gewohnten Sternenhimmel, wenn auch aus anderer Perspektive.
Aber noch etwas hatte sich geändert: statt sieben Planeten sah man jetzt acht! Die Erde hatte sich zu ihren Geschwistern am Firmament dazu gesellt. Für Bill Anders, den Piloten der Kapsel, gab es da kein „zu früh oder zu spät“. Er drückte im rechten Moment auf den Auslöser seiner Kamera und bescherte der Menschheit die ersten Bilder, die unseren Planeten in seiner vollen Pracht zeigten. Vielleicht wenden Sie ein, dass es schon vorher von Satelliten geschossene Fotos der Erde gab. Das mag schon sein, aber die waren aus zu geringem Abstand gemacht, um ihrer Schönheit gerecht zu werden. Das ist so, wie wenn Sie Ihren Hund aus nur fünf Zentimeter Entfernung fotografieren, da sehen Sie dann nur ein Stück seines Fells, aber nicht Ihren Vierbeiner in seiner ganzen Anmut.
Bill Anders‘ Fotografie ist ohne Zweifel eine Sternstunde. Seine Worte – Wir flogen zum Mond, aber was wir entdeckten, das war die Erde – bringen ihn in die Nähe von Vasco Núñez de Balboa und seiner Entdeckung des Pazifischen Ozeans im Jahre 1513, die von Stefan Zweig als Sternstunde unter dem Titel „Flucht in die Unendlichkeit“ gewürdigt wurde.
Bills letzter Flug war seine Flucht in die Unsterblichkeit.
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