Vor Beginn der Vorstellung steht auf dem Vorhang links der Name von Pjotr I. Tschaikowsky, rechts der von Ivan Alboresi. Wer kein Programmheft hat, oder es noch nicht lesen konnte, mag sich, wie mein Sitznachbar im ausverkauften Haus fragen, warum sich der Choreograph so in Szene setzt. Die Antwort: Es handelt sich um eine Neuschöpfung nach Tschaikowskis Motiven. Ivan Alboresi hat ein eigenes Libretto geschrieben und hat dann geschaut „welche der Musiktitel die jeweilige Emotion der Szene für mein Empfinden am besten unterstreichen und vermitteln. Dabei tausche ich auch einmal Stücke und ändere die von Tschaikowski gedachte Reihenfolge. Heraus kam ein neues Ballett, das Raum für eine ganz eigene Interpretation bot.
Ich habe „Schwansee“ mindestens zwanzigmal gesehen, den „Nussknacker“ ein halbes Dutzend mal, Dornröschen meiner Erinnerung nach nie, so dass ich die klassische Spitzentanzversion nicht vor Augen hatte. Ob das gut war, oder nicht, spielt keine Rolle, denn so war ich von Anfang an offen für die Neuinterpretation. Am Beginn des ersten Aktes tanzen die zukünftigen Eltern von Aurora erst einmal ohne Musik, die erst einsetzt, als die Ängste und Zweifel dargestellt werden, die wahrscheinlich immer einer Geburt vorausgehen. Von Anfang an faszinieren die Leistungen der Tänzer, die neben der Eleganz ihrer Bewegungen auch regelrechte Akrobatik bieten. Manche Sprünge erinnern an die Eiskunstläufer, von denen die Sowjetunion und später Russland Weltklasse-Könner hervorgebracht hat.
Sehr eindrucksvoll sind die Großen Szenen, etwa beim Fest zu Ehren von Auroras Geburt, bei dem das Baby verschwindet. Die allgemeine Aufregung wird durch kunstvolle Tanzbilder eindrücklich zur Geltung gebracht. Ehe man an Chaos denken kann, löst sich das Ganze auf elegante Weise auf. Die Intensität der Tänzer bewirkt, dass der Zuschauer förmlich in die Szene hineingezogen wird. Ein weiteres Highlight ist der Auftritt der vier guten Feen: Temperament, Schönheit, Gesundheit und Intelligenz. Wenn man unbedingt etwas Kritisches anmerken wollte, wäre es, dass die Intelligenz von einem männlichen Tänzer interpretiert wird. Aber das schreibe ich nur, weil ich immer nur voll des Lobes bin, was die Produktionen in Nordhausen betrifft. Das Ballett ist eine besondere Klasse für sich.
Beim Auftritt von Carabosse, der bösen Fee, bliebt Alboresi ganz nah an Tschaikowsky dran. Er zeigt, „was die Musik im ursprünglichen Sinne erzählt… Tschaikowski hat ja auch mit Leitmotiven gearbeitet, sie sind ganz nah an den Charakteren und Situationen, und das kann eine tolle Kraft entfalten und sehr wirkungsvoll sein.“ Für mich waren die Auftritte von Carabosse die Höhepunkte der Aufführung. Besonders eindrucksvoll ist die Szene, in der die 16-jährige Aurora verführt wird. Das ist voller Erotik, aber die Liebe wird Aurora erst nach ihrem langen Schlaf durch Désiré kennenlernen.
Das Besondere an dieser Inszenierung ist, dass die Tänzer in unterschiedlichen Rollen auftreten werden. Ich sah Rina Hayashi als Aurora. Beim nächsten Mal könnte sie aber die Mutter tanzen. Die Tänzer beherrschen also unterschiedliche Rollen.
Das Bühnenbild ist eher karg. Genial ist die Idee, dass am Ende der Verführung Auroras, als sie in den Schlaf sinkt, Carabosse einen riesigen schwarzen Vorhang aus dem Boden zieht, der im Weitergehen Aurora bedeckt und die Dornenhecke symbolisieren soll. Das geht unter die Haut.
Tschaikowsky, wenn er vom Himmel aus die Aufführung verfolgen könnte, würde sicherlich wegen des fehlenden Glanzes der provisorischen Spielstätte im Anbau die Nase rümpfen, von der Vorstellung selbst aber begeistert sein. Davon bin ich fest überzeugt.
Weitere Vorstellungen: 19.11., 24.11. 2.12., 14.12., 26.12.2023