Von Gastautor Carl-Wolfgang Holzapfel
Berlin, 20.08.2023/cw – Erinnern Sie sich: „Und alle, alle kamen sie aus Roma und aus Napoli…“ So ein Schlager vor einigen Jahrzehnten. So geschah es auch am vergangenen Freitag in der Neuköllner Karl-Marx-Straße 196. Zur Einweihung einer (kleinen) Gedenktafel an den 1951 von MfS-Schergen entführten Mediziner Wolfgang Waterstraat (* 29. Januar 1920 – † 2. April 1952), der bis zu diesem Zeitpunkt mit seiner Familie in eben diesem haus gewohnt hatte. Zu der Einweihung war neben der Tochter und ihrem Ehemann zwei Enkel des weiland im Robert-Koch-Institut arbeitenden Forschers erschienen. 40 Personen trotzten der Hitze, um diesem ehrenden feierlichen Akt in den Mittagsstunden (14:00 Uhr) beizuwohnen. Unter diesen der Vorsitzende der UOKG, Dieter Dombrowski, die Brandenburger Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur, Maria Nooke, der Stellvertreter des Berliner Landesbeauftragten, Frank Ebert, der Vorsitzende der Lagergemeinschaft Workuta, Stefan Krikowski sowie zahlreiche Vertreter der Stiftung Aufarbeitung und diverser Opferverbände. Nur knapp 24 Stunden nach der feierlichen Einweihung war die Tafel nebst niedergelegten Blumen und Kranzschleifen wieder entfernt worden.
Entdeckt hatte diese Schändung der Erinnerung Stefan Krikowski, der zusammen mit seiner Frau am Vormittag des nächsten Tages den Ort des Gedenkens noch einmal aufsuchte. Entsetzt bemerkte der engagierte Vorsitzende der Lagergemeinschaft Workuta die Straftat. Unverzüglich suchten beide das nächst erreichbare Polizeirevier (Abschnitt A 54 – Sonnenallee/Ecke Erkstraße) auf, um diesen unerhörten Vorgang zur Strafanzeige zu bringen. Auf die Frage einer Aussicht auf die Habhaftmachung möglicher Täter erwiderte der diensthabende Beamte „nur mit einem müden Lächeln“ (Krikowski): „In der Regel muss ich Ihnen Ihre Frage negativ beantworten. Manchmal gäbe es Zeugen, die sich melden, aber…“.
Auch der Duktus in der Bestätigung der Anzeige spricht für sich: „In der schriftlichen Bestätigung der Strafanzeige vom 19.8.23 wurde vermerkt: „Delikt (kriminologische Bezeichnung): EFD – einfacher Diebstahl. Einfach deshalb, weil man das zu entwendende Objekt leicht wieder abschrauben kann, also nicht besonders gesichert ist, oder der Täter musste nicht eine Scheibe einschlagen, um das gewünschte Objekt zu entfernen.“
Der in Stettin geborene spätere deutsche Arzt Waterstraat wurde im Zweiten Weltkrieg während des Medizinstudiums als Truppenarzt abkommandiert und konnte wegen einer schweren Verwundung sein Studium erst nach dem Krieg abschließen. Nach seiner Flucht vor der Roten Armee über die Ostsee wohnte er in Berlin, wo er auch heiratete und 1948 Vater einer Tochter wurde. Waterstraat wurde Mitarbeiter des Robert-Koch-Institutes, das sich noch heute mit Forschungen zu Infektionskrankheiten befasst. Aktuell forschte Waterstraat bei Georg Henneberg (* 1908 – † 1996), dem späteren Präsidenten des Instituts und des Bundesgesundheitsamtes, über das damals neue Antibiotikum Streptomycin. Ferner arbeitete er im Auftrag des damaligen Westberliner Senats im Streptomycin-Komitee, welches dieses teure Antibiotikum gegen Tuberkulose auch an ostdeutsche Bürger abgab.
Am 28. August 1951 verließ Waterstraat in den Morgenstunden wie gewohnt seine Wohnung in der Karl-Marx-Straße. Seine Frau, die dreijährige Tochter auf dem Arm, winkte ihm wie üblich aus einem Fenster der im 3. Stock gelegenen Wohnung zu. Es war der Letzte Blick auf den Ehemann und Vater, der auf dem Weg zum Dienst von Ost-Berliner Agenten der Staatssicherheit mit Waffengewalt aus der S-Bahn entführt wurde. Der Entführte trug seine praktisch fertige Dissertation bei sich, die seither ebenfalls verschollen ist.
Erst im Jahr 1959 erfuhr die Familie über den Suchdienst des Deutsche Roten Kreuzes vom Tod Wolfgang Waterstraats. Danach sei er „auf dem Gebiet der UdSSR verstorben“. Erst nach dem Fall der Todesgrenzen in Europa erfuhr die Familie die furchtbare Wahrheit: Waterstraat war im Januar 1952 in Moskau wegen angeblicher Spionage, Diversion und antisowjetischer Propaganda zum Tode verurteilt und im April 1952 hingerichtet worden.
Neben seiner medizinisch motivierten Tätigkeit war er Mitglied in der politischen Vereinigung „Deutsche Union“ und in der daraus hervorgegangenen Splittergruppe „Europäische Freiwillige Westberlin“, als deren Vorsitzender er gewählt wurde. Diese Splittergruppe bestand größtenteils aus Journalisten, die sich für ein vereintes Europa ohne Grenzen und Militarismus einsetzen wollten. Es wird vermutet, dass neben diesem politischen antikommunistischen Engagement auch seine Forschungen über Streptomycin eine Rolle gespielt haben könnten, da diese nicht nur für die Ostberliner Behörden interessant gewesen sein könnten. Allerdings tauchte die wissenschaftliche Arbeit, die Waterstraat bei seiner Verhaftung bei sich trug, nicht wieder auf; es gab und gibt zudem keine Hinweise auf eine Verwendung. Auch wurden ihm offensichtlich berufsbedingte Kontakte mit ostdeutschen Patienten im Robert Koch-Institut zum Verhängnis, da ihm nach seiner Verhaftung Spionage bezüglich solcher Patientengespräche vorgeworfen wurde. Auch eine Patientin, die in Ostberlin wohnte, wurde mit ihm verurteilt. Diese erhielt 25 Jahre Lagerhaft und wurde wegen des erneuten Ausbruchs ihrer Krankheit nach Jahren vorzeitig aus der Haft entlassen.
Für 927 wie Waterstraat verschleppte und in Moskau hingerichtete Deutsche wurde am 1. Juli 2005 ein Gedenkstein auf dem Moskauer Donskoi-Friedhof eingeweiht. Waterstraat selbst wurde 1993 durch die Hauptstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation mit der Begründung der „unbegründeten Verhaftung“ rehabilitiert.
Die am 18. August an seinem ehemaligen Wohnort in der Berliner Karl-Marx-Straße 196 eingeweihte Gedenktafel im Rahmen einer feierlichen Stunde sollte an dieses weitere Opfer stalinistischer Willkür erinnern. Die russische Menschenrechtsorganisation MEMORIAL hatte zuvor bereits sechs Tafeln installiert. In Deutschland wäre dies die zweite Tafel gewesen. Es bleibt nicht nur die Hoffnung auf eine Neuinstallation einer Gedenktafel sondern auch – neben einer gelingenden Feststellung der ruchlosen Täter – die Hoffnung auf eine solidarische Haltung örtlich wohnender Bürger, die diesen Erinnerungen die notwendige Achtung und Aufmerksamkeit widmet.
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