Das Eschenhaus oder das Verschwinden unserer Lebenswelt

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Jörg Bernig wagt sich mit seinem neuen Roman „Das Eschenhaus“ an ein ganz großes Thema, das Johann Wolfgang Goethe seinen Mephisto im „Faust“ so formulieren lässt: „Alles was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht.“ Wir wissen von den Etruskern, die von den Römern überdeckt wurden, in der chinesischen Erde lagern noch Paläste längst untergegangener Dynastien, die auf ihre Ausgrabung warten. Auf Skagen, wo sich Nord- und Ostsee treffen ist eine Kirche bis auf ihren Turm vollständig vom Sand verschüttet.

Was wird von Europa bleiben, wenn der politisch initiierte und forcierte Wandel des Kontinents abgeschlossen ist? Wir alle erleben die Zersetzung der Alten Welt und niemand weiß, was daraus werden wird.

Bernig entwickelt drei Schauplätze: Die britischen Inseln, speziell Wales, die frühere DDR, bei ihm Kleideutschland genannt wird, und das auseinanderfallende Jugoslawien, in dem der dort entstandene europäische Islam unterging.

Hauptfigur Anne, eine in Leipzig geborene Berliner Zeichnerin, bekommt unerwartet Besuch von einem Anwalt, der ihr die Urkunden und den Schlüssel eines Hauses an der walisischen Küste übergibt, das ihr ein völlig Unbekannter vererbt hat. Dem beigefügten Brief ist nur zu entnehmen, dass der Erblasser die schönste Zeit seines Lebens mit ihren Eltern verbracht hat. Doch von einem Briten, den sie in der DDR gekannt haben, war bei ihren Eltern nie die Rede gewesen. Stück für Stück entdeckt Anne seine Biografie. Nach einem „Blitz“-Angriff auf London als einzig Überlebender aus den Trümmern gezogen, wuchs er in einem Waisenhaus auf, wurde Germanist und Sozialist und folgte in den 70er Jahren einer Einladung der Universität Leipzig. Dort verliebte er sich in Annes schöne Mutter Heidi und wurde zum Stasispitzel für die Zusage, dass er Heidi mit nach Britannien nehmen könne, sollte er sie für sich gewinnen. Das gelang nicht. Stattdessen zerstörten seine Berichte an die Stasi die Universitätskarrieren der Eltern, die sich nie wieder von diesem erlittenen Unrecht befreien konnten. Anne, die dieses Unglück nicht ertragen konnte, verließ ihre Eltern.

Während Anne am Rand der Welt eine Generalrevision ihres Lebens abhalten muss, gehen sowohl auf den Inseln und auf dem Kontinent beunruhigende Dinge vor sich: An der englisch-schottischen Grenze gibt es immer häufiger bewaffnete Zusammenstöße, in Wales entwickeln sich Bestrebungen, sich von England zu lösen. In den Großstädten gibt es Zonen, wo Otrella, die einzig wahre Religion, herrscht.

Auf dem Kontinent ist die Politik dabei, Deutschland zu „Reterritorialisieren“, d.h. aufzuteilen in Territorien, in denen Otrella herrscht und andere, in denen die Bewohner Otrella nicht beitreten wollen. Die dafür nötigen Umsiedlungen dürfen nur Umzüge genannt werden. Die Regierung der Bundesrepublik, die nicht mehr Deutschland genannt wird, sitzt in einem Bunker in Berlin, das wieder geteilt ist in otrellisches und nicht otrellisches Gebiet, aber ein Passagierschein-Abkommen ist bereits geschlossen.

Die Bundesrepublik steht nur an der Spitze einer europäischen Entwicklung, die sich bereits in den 90er Jahren im ehemaligen Jugoslawien vollzogen hat: Serben, Kroaten und Bosnier, die bis dahin zwar nicht problemlos, aber friedlich miteinander gelebt haben, wurden ethnisch separiert. Europa hat damals das Menetekel übersehen.

Die stärksten Stellen des Romans gelingen Bernig bei der Schilderung der walisischen Küstenlandschaft mit ihrem wechselnden Licht und dem Leben der DDR-Dissidenten in ihren Bauernhöfen. Wer so einen Endlossommer in den abgelegenen Gebieten von Kleindeutschland erlebt hat, weiß, wie authentisch Bernigs Schilderungen sind. Dafür nimmt man eine gewisse Blutleere seiner Figuren gern in Kauf.

Am Ende des Romans besucht Anne ihre Freundin Barbara, die in einem Dorf der Lausitz Zuflucht gesucht hat. Hier haben sich Menschen versammelt, die nicht unter ortrellischer Herrschaft leben wollen. Berlin ist fern, Breslau nah und auf polnischer Seite treffen sich in Wahlstatt, wo im 13. Jahrhundert die Mongolen das Heer aus deutschen Rittern und schlesischen Bergknappen vernichtend schlugen, aber dann umkehrten, weil ihr Kahn in der fernen Mongolei gestorben war, Jugendliche aus ganz Europa, die an den europäischen Wurzeln festhalten wollen. Die Jugendschar zieht dann weiter nach Breslau in die Jahrhunderthalle, von wo Anne und Barbara verjüngt zurückkehren.

Wegen dieses optimistischen Schlusses ist der Roman keine Dystrophie, sondern „alles nur erdacht und Kunst“, wie es im Buchdeckel richtig heißt.

Last not least: Dieses Buch ist nicht nur schön anzusehen, man nimmt es gern in die Hand, man kann mit einem Lesebändchen die Stelle markieren, an der man das Buch sinken lässt, um einem Gedanken nachzuhängen, oder sich mit einem Lächeln an eines der vielen Wörter erinnern, die Bernigs Sprachreichtum zum neuen Leben erweckt.

Jörg Bernig: „Das Eschenhaus“



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