Feuerland – Eine Reise ins Lange Jahrhundert der Utopien

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Dieses neue Buch des Autors Peter Neumann weckt Erwartungen, besonders bei denen, die seinen Erfolgstitel: „Jena 1800 – die Republik der freien Geister“ kennen. Es erfüllt diese Erwartungen möglicherwiese nicht, aber es lohnt sich trotzdem, es zu lesen.

Als Ausgangspunkt seiner kurzweiligen Betrachtungen wählt Neumann den Ausbruch des Vulkans Krakatau im August 1883, ein wahrhaft welterschütterndes Ereignis, das in Hamburg, auf der anderen Seite der Weltkugel, den Kronleuchter einer Altonaer Kirche mitten im Gottesdienst zum Schwanken brachte. Damals dauerte es einige Tage, bis Nachrichten über den Ausbruch ins ferne Europa gelangten. Die Vulkaninsel war spurlos im Meer versunken. Über die Auswirkungen auf den gesamten asiatischen Kontinent, insbesondere Malaysia und Indonesien ist wenig bekannt, aber man weiß, was das Erdbeben von Lissabon angerichtet hat. Für Neumann ist dieses Ereignis ein Menetekel für Europa. Es wird untergehen, wie Krakatau.

Der Vulkan ist noch intakt, als Friedrich Nietzsche im Februar 1883 in Rapallo im Café sitzt. Er hat sich gerade den ersten Teil des „Zarathustra“ in zehn Tagen von der Seele geschrieben und vom Tod Richard Wagners, des einst angebeteten, jetzt verfeindeten Musikers, erfahren. Sein Manuskript wird er dennoch sofort an seinen Verleger schicken. Die Botschaft ist wichtig. Sein „Anwalt gegen alle Autoritäten“, Zarathustra, hat seine Hoffnung auf eine bessere Welt aufgegeben. Die Welt ist ein Kampf des Guten gegen das Böse, warum glauben die Menschen, etwas daran ändern zu können? Die Hoffnung ist dabei das größte Übel, sie zwingt den Menschen, sein Leben nicht wegzuwerfen, sondern weiterzumachen. Hoffnung auf Aufklärung, Fortschritt und Ruhm hat das Jahrhundert in einen Dämmerschlaf versetzt, aus dem es erweckt werden muss. Warum eigentlich, da alles vergeblich ist?

Auch Nietzsches Freund-Feind Wagner will mit seinen Opern die Welt aufwecken. Seine Opern sollen in den Rang einer Religion erhoben werden, „eine zeremonielle Handlung, die der Welt ihre Profanität austreiben soll.“ Der Gläubige ist Teil einer Gemeinschaft.

In den letzten verregneten Wochen seines Lebens steht Wagner oft auf dem Balkon seines gemieteten Palazzos, hört den Gesängen der Gondolieri zu und weiß, es sind Weisen für Einsame, „in die Dunkelheit entsandt, damit ein Gleichgesinnter sie höre und antwortete“.

Mit solchen Schlaglichtern auf Personen, die das Jahrhundert geprägt haben, geht es weiter. Manchmal ist die Beschreibung so intensiv, dass man glaubt, mit Wagner auf dem Balkon zu stehen, manchmal distanzierter, wie beim nächsten Paar: Gerhard Hauptmann und Käthe Kollwitz. Er hat 1993 die erfolgreiche Aufführung seiner „Weber“ erlebt, sie hat ihre Radierungen nach Zolas Roman „Germinal“ beiseitegelegt, um einen Zyklus über den Weberaufstand zu schaffen. Für den soll sie 1898 die kleine Goldmedaille der Berliner Kunstaustellung erhalten, was die Berliner Kunstwelt elektrisiert, aber am Ende am Veto des Kaisers scheitert.

Insgesamt gibt es 18 Kapitel, in denen jeweils zwei Personen beschrieben werden. Manchmal sind sie sich, wie James Joyce und Marcel Proust, bei einer Abendgesellschaft begegnet, wo sie feststellten, dass sie sich nicht ausstehen können. Manchmal ist die Kombination überraschend, wie bei Samuel Beckett und Caspar David Friedrich. Beckett hat an einem windigen Januartag 1937 in der Alten Akademie in Dresden die „Zwei Männer bei der Betrachtung des Mondes“ gesehen – das hat sein Leben verändert. Beckett reist durch Hitlerdeutschland, aus dem Walter Benjamin und Hannah Arendt geflohen sind. Sie treffen sich im Marseille, wo sie in einem gut besuchten Restaurant noch Plätze ergattern können. Es ist der Vorabend von Benjamins Aufbruch nach Spanien, von wo er hofft, weiter nach Lissabon und dort auf das Schiff nach Amerika zu kommen. Die Reise endet an der spanischen Grenze, wo er nicht weiterdarf. Er hat kein Ausreisevisum aus Frankreich, von dem er nichts wissen konnte, weil die Verordnung gerade erst erlassen worden war. Benjamin beschließt, seine Erdentage mit einer Menge Morphium zu beenden, die ein Pferd umgebracht hätte.

In Heidelberg 1949 diskutiert Hannah Arendt mit Karl Jaspers über die Schuldfrage. Er ist wieder an der Uni Heidelberg Professor, die ihn 1933 so schnöde vor die Tür gesetzt hat. Sie ist unterwegs, um in Bibliotheken und Galerien nach von den Nazis konfiszierten Eigentum zu fahnden.

Jaspers vertritt die These, dass die moralische Kollektivverurteilung des deutschen Volkes weder für politisch klug noch philosophisch haltbar ist. Man kann nicht ein ganzes Volk moralisch zur Rechenschaft ziehen. Moralisch beurteilen kann man immer nur die Handlungen eines Einzelnen.

Jaspers Vorlesungen waren stets voll besetzt und er erhielt viel Zustimmung von den Studenten. Allerdings hat sich die Kollektivschuldthese durchgesetzt, die vor allem zur Entlastung der wirklichen Täter führt und den Blick darauf vernebelt, warum Individuen Täter, Mitläufer oder Widerständler wurden.

Im dritten Teil seines Buches behandelt Neumann das Ende seines langen Jahrhunderts. Die Auswahl seiner Episoden wirkt hier völlig erratisch. Es beginnt mit Martin Heideckers Reise nach Griechenland 1962, wo er feststellt, dass die Überreste der Antike nichts von dem vermitteln, was sie einmal war – die Wiege der Philosophie. Es geht weiter mit der skurrilen Öffnung von Goethes Sarg und der Reinigung seines Skeletts vom allen organischen Überresten in Weimar 1970, springt dann zum Reaktorunglück von Tschernobyl 1986, übergeht den Mauerfall, der immerhin ein bis an die Zähnen bewaffnetes System zum Verschwinden gebracht hat, um 1991 bei der Diskussion von Christa Wolf und Jürgen Habermas über den Prozess der deutschen Einheit zu landen. Habermas will auf keinen Fallt, dass es nach dem Zusammenbruch des SED-Regimes eine symbolische Stunde Null gibt. Das Ende der ersten und der zweiten totalitären Diktatur auf deutschem Boden und die Diktaturen selbst, sollen nicht verglichen werden dürfen. Dieses Tabu belastet die Diskussion bis heute. Dazu weiß Neumann nichts zu sagen oder will nichts sagen.

Am Ende erfahren wir noch, warum Stephane Hessel im Gegensatz zu Walter Benjamin immer Glück gehabt hat. Seinem Appell an die Jugend, sich zu engagieren, steht etwas im luftleeren Raum.

Nicht verständlich ist das Anhängsel „Wuhan 2020 – Ein Sturm bricht los über die Erde“. Meint Neumann damit die offen verkündete Absicht, die „goldene Gelegenheit“ (Prince Charles) zu nutzen für den radikalen Umbau der globalen Gesellschaft, „Great Reset“ genannt? Das bleibt offen. Neumann philosophiert lieber darüber, warum die Weltuntergangsuhr immer mal wieder kurz vor Zwölf vor- und zurück gestellt wird. In Europa treten die ersten Infektionsfälle auf, während die Vorbereitungen auf den Karneval in Venedig auf Hochtouren laufen.

Was Der Autor uns damit sagen will, bleibt im Ungewissen.

Peter Neumann: Feuerland



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