Ein normales Leben in einem System des Unnormalen

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Von Gastautor Lothar W. Pawliczak

Bei Memoiren muß man immer skeptisch sein, ob das vermittelte Selbstbild des Autors wirklich stimmt. Bei Darstellungen zur DDR umso mehr, da ja der Kampf um die Deutung des gottlob untergegangenen Landes noch tobt. Viele ehemalige DDR-Funktionäre haben Memoiren geschrieben: Sie hätten immer nur das Beste gewollt. Das lesen wohl nur Derengleichen und Historiker, die dann daraus ein einseitig geschöntes Bild des realen Sozialismus konstruieren. Die Erinnerung verblasst, wird beschönigt, relativiert. Der normale Ossi weiß es besser und fühlt sich mißverstanden. Über das normale Leben erfährt aus Filmen oder aus durchaus beachtlichen literarischen Werken zur DDR wenig, obwohl Jurek Becker, Monika Maron, Uwe Tellkamp, Christa Wolf und viel andere sehr zu empfehlen sind: Da steht im Mittelpunkt stets ein „seltsames, unerhörtes Ereignis“. So definierte Goethe Novelle. Das normale Leben ist aber kein seltsames Ereignis und das Urteil darüber nach 30 Jahren ist wohl ein anderes als die Sinngebung, die man seinerzeit für sich gefunden hatte, um doch ein richtiges Leben im Falschen führen zu können.

Wer in etwa erfahren will, wie das ganz normale Leben in der DDR war, dem sind die Aufzeichnungen von Peter Schewe zu empfehlen. Der Text ist leicht zu lesen: 168 Seiten großzügig gedruckt ist es in einem längeren, sich in die Nacht hinziehenden Abend zu schaffen.
Peter Schewe zitiert gleichsam als Motto eingangs Dietrich Bonhoeffer: „Dummheit ist ein gefährlicherer Feind des Guten als Bosheit.“ (S. 3) Nein, er ist kein Dummer, ganz im Gegenteil ein Cleverle und mit viel Glück konnte er immer wieder der sozialistischen Dummheit ein Schnippchen schlagen. Im Vorwort nach mehr 30 Jahren auf sein Leben in der DDR zurückblickend stellt er fest: „Wir gehörten nicht zu den regierenden Arbeiter und Bauern, wir standen auf der anderen Seite der Klassenschranke und immer schwebte über uns die Frage: Wie lange noch werden wir geduldet, weil gebraucht. Wir waren sozusagen nützliche Schädlinge.“ (S. 8) Eigentlich wußte es jeder: Zentrale Planung hinterläßt überall Lücken, weil die Planbehörden nicht alles wissen können und es einen Unterschied zwischen einem Plan und der tatsächlichen Planausführung gibt. Überall wurden diese Lücken ausgefüllt von ideenreichen Leuten wie Peter Schewe einer ist.
Er berichtet von seinem gelungenen Leben ohne sich zu rühmen, ganz sachlich zurückschauend, berichtet von Gefährdungen, ohne zu jammern, von Anstrengungen, ohne zu klagen, von Erfolgen, ohne zu prahlen. Er hat auch immer wieder Glück gehabt, wenn er eine rote Linie berührte und die Gefahr bestand, vor die sozialistische Wand zu laufen. Der Sozialismus hat seine inneren Feinde selbst erzeugt. Peter Schewe wollte sicher keiner sein und wurde auch nicht dazu gemacht, weil da immer wieder Leute waren, die es mit den sozialistischen Prinzipien nicht so genau nahmen. Mal drückten Lehrer in der Schule ein Auge zu (S. 21-23, 31f, 38), mal Lehrkräfte an der TU Dresden (55f, 59f), mal ein Bürgermeister oder andere Beamte (S. 70f, 75f, 123), mal Vorgesetzte (S. 106f), selbst Armeeoffiziere (S. 43f, 53, 116) und wohl auch so mancher STASI-Mann: U.a. wurde er verdächtigt, seine Republikflucht vorzubereiten (S. 82-91). Das hatte er, glücklich mit Frau und Kind und grade mit erheblichen Anstrengungen erbautem eigenen Haus, nie vor. Über Monate wurde er beschattet. Die STASI-Akte umfaßt 189 Seiten. Schon allein der Verdacht hätte ihn ins Gefängnis bringen können.

Initiativen, wirkliche Märkte unterhalb des Planes hielten das System halbwegs am Laufen. Hätte es dieses initiativreiche Marktverhalten der Bürger – offiziell zwar beargwöhnt, aber geduldet – nicht gegeben, wäre der reale Sozialismus schon viel früher zusammengebrochen. Aus einem westdeutschen Betonkalender kopierte Berechnungstafeln machten die Arbeit effektiver, obwohl die Verbreitung von Westliteratur verboten war (S. 68), die Verzinkung von Brückenteilen, die nur für den Export vorgesehen war, auch für Brückenbau in der DDR vorzunehmen, war wohl die Initiative eines Betriebsleiters innerhalb der Lücken, die jeder Plan läßt, realisiert mit knappen Material, den Mangel noch vergrößernd (S. 68f). „Aber irgendwo war dann doch jemand, der kannte wieder einen und hatte Beziehungen hierhin und dorthin. Und so bekam man“, was man brauchte (S. 71, 111) – egal ob privat oder als Betriebsleiter. Ferienplätze, insbesondere an der Ostsee, waren eine begehrtes Zahlungsmittel auch von Herrn Schewe (S. 72), später als Leiter einer LPG-Baubrigade dann 15-mm-Senkkopfgewindeschrauben aus hochfestem Stahl (S. 112) oder ein Kalb oder ein Schwein für das Russenregiment gegen Benzin für den LPG-Trabant und Kommissbrot als Schweinefutter (S. 113f). Und natürlich „blaue Fliesen“: die DM. „Angebot und Nachfrage regeln den Preis, das funktionierte auch in der DDR-Schattenwirtschaft, genannt Feierabendtätigkeit.“ (S. 78) Auch bei staatlichen Einrichtungen bekam man schneller oder besser das Gewünschte, wenn in DM gezahlt wurde über den Umweg der Einzahlung von Westverwandten – wohl dem, der welche hatte – bei der DDR-Devisenfirma GENEX (S. 91f). Und eine Art Cum-Ex-Geschäfte gab es in der DDR auch: Man verkaufte Eier, Hühner, Schweine, die man mit subventionierten Brot aus der staatlichen Verkaufsstelle gefüttert hatte, zu hochsubventionierten Einkaufspreisen an dieselbe, um die Waren dann zu für den Bevölkerungsbedarf runtersubventionierten Preisen zurückzukaufen und erneut zu hohen Aufkaufpreisen zu verkaufen. Dasselbe auch mit Obst und Gemüse. „Eine Stallbesatzung in Rippin betrieb dieses Geschäft in einem etwas größeren Stiel. Sie sammelten auf den Streuobstwiesen einen ganzen Hänger voller Äpfel, lieferten diesen beim Aufkäufer ab und kauften ihn sofort wieder zurück, ohne ihn überhaupt abzuladen. Und das mehrmals hintereinander, den Gewinn teile man sich mit dem Aufkäufer.“ (S. 115)

Peter Schewes erste Arbeitsaufgabe nach dem Studium – da stutzt der Leser – war bei der DDR-Reichsbahn ein Sozialgebäude für Strafgefangene zu entwerfen. Er berichtet auch das ganz sachlich (S. 65f). Man merkt, er wollte seine Arbeit immer gut machen, als Lehrling in des Vaters Tischlerwerkstatt, als Abiturient und Maurerlehrling, als Ingenieurstudent, in allen Jobs, schließlich als Unternehmer einer kleinen Tischlerei.
Offiziell, insbesondere bei Einstellungsgesprächen wurde immer wieder nach Mitgliedschaft in der Staatspartei SED oder wenigstens in der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft (DSF) gefragt. „Beides verneinend (aus letzterer war ich wieder ausgetreten) verzichtete man auf weitere Fragen bezüglich meiner fachlichen Fähigkeiten. Es war eine eigenartige Methode, geeignete Mitarbeiter zu suchen und ein Grundsatz sozialistischer Kaderpolitik. Nicht die Fähigkeit war entscheidend, sondern die politische Einstellung, wir nannten es die ‚Würde‘. Und wer nicht bereit war, sich würdig zu erweisen, den nützten alle Fähigkeiten wenig. Und wer darüber entschied, war letztlich nur ein Rad im Getriebe und nicht verantwortlich für den Erfolg des Unternehmens. So manifestierte sich in den Führungsschichten der volkseigenen Planwirtschaft die Unfähigkeit“ (S. 77f).
Das System stand sich immer wieder selbst im Weg. Der private Hausbau der Familie Schewe sprach sich rum. Es gab Anfragen, ob er nicht diese oder jene Planung für ein staatliches oder privates Bauvorhaben übernehmen könne. Die Ablehnung des Antrages, entsprechend als selbständiger Bauingenieur zu arbeiten, sei wegen ihrer Absurdität auszugsweise zitiert: „Gem. Anordnung vom 29. 12. 72 werden Neuzulassungen nicht erteilt. […] Aus vorstehenden gesetzlichen Regelungen ersehen Sie, daß Ihrem Antrag prinzipiell nicht entsprochen werden kann, daß jedoch ein gesellschaftliches Interesse an Ihrer Leistungsbereitschaft besteht. Mit sozialistischem Gruß Sniegon, Bezirksbaudirektor“ (S. 79)
Schließlich konnte er sich doch selbständig machen und eine kleine Stuhlbauwerkstatt kaufen, deren Besitzer verstorben war (S. 118-120, 126-136, 150f, 156). Das war nur möglich, weil die Werkstatt Stühle – nur ein einziges Modell – für den Westexport herstellte. „Siehe da, die Diktatur des Proletariats war erpressbar geworden mit ihrer Notwendigkeit, Devisen zu erwirtschaften und aller Kampf gegen den bösen Klassenfeind schien vergessen.“ (S. 120) Gute Stühle waren natürlich auch in der DDR gefragt: „Ungefähr 10 % unserer offiziell an die Genossenschaft verkauften und nach England exportierten Stühle dienten so der Abdeckung des ‚Bevölkerungsbedarfes‘ außerhalb jeglicher Planung und Bilanzierung. Auch meine Mitarbeiter betrieben dies Geschäft fleißig und legten dafür sogar Sonderschichten ein.“ (S. 129) Da war manchmal mehr Geld in der Hosentasche als auf dem Konto und es wurden auch schon mal außerplanmäßige Stühle gegen Orangen, die sicher irgendwo aus dem staatlichen Handel verschwunden waren, getauscht (S. 130). Ein „Herr mit Schlips und Anzug“ veranlaßte dann mit einer aus einem Westkatalog herausgerissenen Seite eine Produktionsumstellung (S. 131): Die lederbezogenen Sessel (Abb. S. 133) wurden ein Erfolgsmodell. Mit der Währungsunion aber war die Werkstatt nicht mehr konkurrenzfähig, immerhin jedoch konnten mit einer letzten Serie von Sesseln einige Einrichtungen ausgestattet werden, darunter der Sitzungsaal der 1990 neu eingerichteten Dresdener Staatskanzlei.

Es ist das Buch eines sozialistischen Sisyphos, derer es viele gab. Sie wollten einfach gut arbeiten, obwohl sie wußten: In diesem System ist es sinnlos. Es ist absurd: Es gibt ein sinnvolles Leben in einem sinnlosen System, gleichwohl kein richtiges Leben im Falschen.

Und wer verstehen will, warum Ossis heutzutage totalitäre Tendenzen in Deutschland (wieder)erkennen und dagegen protestieren, wird auch hier fündig.

Peter Schewe (M)ein Leben in der DDR. Erinnerungen 1950-1990. Druckerei & Verlag Fabian Hille. Dresden 2021



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