Mir geht es wie Juli Zehs Romanheldin Dora: Ich habe schon lange aufgehört, Gegenwartsliteratur zu lesen, außer ich kenne den Autor persönlich und weiß ihn zu schätzen.
Dass ich zu Juli Zehs Buch griff, habe ich meiner Enkeltochter (23) zu verdanken, die Zeh in ihre Auszeit nach Teneriffa mitgenommen und schon gelesen hatte, als ich nachkam. Was sie mir von ihrer Lektüre erzählte, weckte meine Neugier.
Binnenflüchtling Dora, die aus ihrem Kreuzberger Heim in ein Brandenburgisches Gutsverwalterhaus zieht, wo sie ihrem Prenzlauer Berg-Kreativjob im Home-Office nachkommen will, wird von ihrem Nachbarn begrüßt mit: „Ich bin der Dorfnazi“. Ihren sofort einsetzenden erneuten Fluchtreflex kann sie nur entkommen, weil die Abneigung, nach Berlin zu ihrem Lebensgefährten zurückzukehren, stärker ist. Robert, bis dahin ihr Lebensabschnittspartner, war erst zum fanatischen Thunberg-Jünger, dann zum Corona-Fan mutiert. Als er ihr ernsthaft verbieten wollte, die gemeinsame Wohnung für einsame Spaziergänge zu verlassen, packte sie ihre Sachen. Das Haus hatte sie schon vorher heimlich gekauft.
Gote, ihr Nazi-Nachbar, ist nicht nur hässlich mit seinen dicken Tränensäcken, sondern gebärdete sich auch verbal abscheulich. Als erstes droht er, Doras kleinen Hund zu zertreten, sollte der noch einmal sein Frühkartoffelbeet umbuddeln. Die groteske Szene spielt sich an der Mauer ab, die beide Grundstücke trennt. Um sich am Ende ihres Vorstellungsgesprächs ganz altmodisch die Hand geben zu können, muss Dora auf einem Stuhl, er auf einer Obstkiste stehen. Dieses wacklige Arrangement soll sich in ihrer Beziehung als sehr stabil erweisen.
Gote verschwindet für ein paar Tage, als er wieder auftaucht, sägt und poliert er auf seiner Seite an einem halben Dutzend Paletten herum. Zum Glück entgeht Dora dem Lärm, weil sie an diesem Tag nach Berlin muss, um ihren Vater zu treffen, der alle 14 Tage in der Berliner Charité operiert und bei dieser Gelegenheit seine Kinder sehen will. Als sie nachts in ihr Haus zurückkommt, steht im ansonsten leeren Schlafzimmer ein Palettenbett, frisch geweißt. Als sie Gote am nächsten Tag fragt, warum er das gemacht hat, ist die Antwort: „Du hattest kein Bett“. Über den Hausschlüssel verfügt er, weil er sich um das Haus, als es leer stand, gekümmert hatte. „Einer musste es ja tun“.
Das es jemand war, der bei einer abendlichen Sause mit drei Freunden das Horst Wessel-Lied singt, verstört Dora zutiefst, gleichzeitig fühlt sie sich von diesem Kerl seltsam angezogen. Als vier frisch geweißte Küchenstühle vor ihrer Haustür stehen, will sie Gote verbieten, sie weiter zu beschenken. Dabei rutscht ihr ein: „Ich brauche keine Möbel, es sind ja nicht einmal die Wände gestrichen“ heraus.
Prompt hupt der Nachbar sie am nächsten Morgen aus dem Schlaf, um mit ihr zum 18km entfernten Baumarkt zu fahren und Farbe zu kaufen. An der Renovierung beteiligen sich dann noch ein weiterer Nachbar und ein kleines Mädchen, wie sich herausstellt Gotes Tochter, die eigentlich mit ihrer Mutter nach Berlin gezogen ist, aber coronabedingt nicht in die Schule muss und zum Vater zurückgekehrt ist.
Zehs Dorfpersonentableau wird ergänzt durch das schwule Paar Tom, Blumenhändler und Steffen, Kabarettist und Blumengesteckkünstler. Zwischen diesen Personen entfaltet sich die Handlung, die so unglaublich die Tücken des modernen Lebens aufdeckt, das eine ältere Person, wie ich, aus einem anderen Universum zu stammen scheint.
Meine Generation hatte keine Probleme, ihr Leben zu genießen, brauchte weder Selbstoptimierung noch Social Media-Auftritte und schon gar kein Tinder (da musste ich erst mal nachschlagen, was das ist) für die Partnersuche. Bei den Diskussionen in meiner Studenten- und frühen Berufszeit ging es um Ästhetik, Philosophie, Literatur (die Klassiker von der Romantik bis zu Thomas Mann), aber höchstens am Rand um das Damoklesschwert der atomaren Bedrohung. Selbst in der Diktatur, in der ich lebte, gestatteten wir der Politik nicht, so bestimmend für unser Leben zu werden, wie es in Corona-Zeiten der Fall ist. Wie Zehs Hauptheldin begeisterten wir uns für Marin Luther Kings „I have a dream“. Ein starker, inspirierender Kontrast zu Gretas „How dare you!“, der die Gesellschaft spaltet.
Dora passt nicht in die großstädtische Kunstwelt. Für sie ist die Provinz das Eintauchen in die Realität. Sie hatte immer geglaubt, keine Kinder zu mögen. Als die kleine Franzi in ihr Leben tritt, merkt sie, dass es ihr ehemaliger Lebenspartner Robert war, der den Kinderwunsch in ihr unterdrückt hat.
Keine Angst, aus dem Dorfnazi, der natürlich kein wirklicher ist, und der Kreativen wird kein Paar. Juli Zeh hat solch einen Kitsch klug vermieden. Sie lässt Grote an einem irreparablen Gehirntumor leiden, der ihn in einer Phase, wo es ihm noch einmal gut geht, Selbstmord verüben lässt.
Das Gesellschaftspanorama, das Zeh in ihrem Buch entwirft, ist verstörend, aber nicht deprimierend, denn es gelingt ihr glaubhaft zu zeigen, dass es Hoffnung gibt.
Dora weiß nach Grotes Tod, dass es mehr gibt als die von Algorithmen gesteuerten Lebensläufe. Grote und Dora wären sich auf Tinder niemals begegnet, das hätten die Algorithmen ausgeschlossen. Insofern ist Zehs Roman auch eine Antwort auf Yuval Noahs Hararis in „Homo Deus“ geäußerte Befürchtung, eines Tages könnten uns die Algorithmen besser kennen als wir uns selbst. Der Mensch ist zu komplex dafür.
Juli Zeh: „Über Menschen“