In den letzten Jahren der Regierung Kohl war Deutschland schon einmal der kranke Mann Europas. Erschöpft durch den Kraftakt der Vereinigung, blieben notwendige Reformen oder Anpassungen auf der Strecke. Die wurden dann von der ersten rot-grünen Regierung Schröder angepackt und bewältigt. Kanzlerin Merkel übernahm 2005 ein wirtschaftlich starkes, um seine Effizienz weltweit beneidetes Land. Nach 16 Jahren funktioniert in Deutschland nichts mehr, wie es sollte. Über die Fehler, die von der Regierung in der Coronakrise am Fließband produziert wurden, ist schon alles gesagt worden und soll hier deshalb nicht wiederholt werden. Es genügt der Hinweis, dass sich die Unfähigkeit der Politik jüngst auch während der Hochwasserkatastrophe im Ahrtal und beim schändlichen Abzug aus Afghanistan manifestiert hat. Es ist höchste Zeit, unseren Blick darauf zu richten, wie unser Land aus dem tiefen Tal, in das es gestürzt wurde, wieder herausarbeiten kann.
Dieser Frage widmen sich die Autoren des Buches „Das neue Normal – Wie die Pandemie unser Leben verändert“ aus dem Verlag Das Neue Berlin.
Ein Anlass für das Buch scheint das Erschrecken gewesen zu sein, wie die Mainstream-Medien und ihre Konsumenten auf die Aktion der 53 Schauspieler, die darauf aufmerksam machten, was in der Corona-Politik alles falsch läuft, reagiert wurde. Herausgeber Ulrich Ende vergleicht die Kampagne mit Psychoterror. Damit hat er absolut recht, auch wenn es vergleichbaren Psychoterror gegen Andersdenkende schon vorher gegeben hat, nur traf der vermeintliche Rechte. Nun wurden kurzerhand überwiegend linke Intellektuelle als Rechte, gar Nazis verunglimpft, was die Schieflage der gesellschaftlichen Debatte, die kaum noch diesen Namen verdient, überdeutlich gemacht hat.
Wie konnte es dazu kommen? In der Corona-Krise wurden viele Fehlentwicklungen, die es vorher schon gab, verstärkt. Dazu gehört auch der einseitige Kampf der Medien gegen rechts, statt sich mit den wirklichen Problemen zu beschäftigen.
Neu ist vor allem, dass die Politik in ihrer Reaktion auf Corona völlig aus dem Auge verloren hat, dass der Mensch ein soziales Wesen ist. Überraschend auch, wie leicht die Menschen bereit waren, ihr gewohntes Leben aufzugeben und sich um ihrer vermeintlichen Sicherheit willen, jedem, auch dem absurdesten Corona-Diktat zu beugen. Nicht nur mein Sohn war zu Beginn des ersten Lockdowns der festen Überzeugung, nach sechs Wochen würden die Menschen auf die Straße gehen und sich lieber erschießen lassen, statt die verhängte Isolation weiter zu erdulden. Irrtum! Nach anderthalb Jahren ist es immer noch ruhig im Land, ja, es scheint immer stiller zu werden. Helmut Schleich vermutet, dass die Lockdowns und ihre Folgen nur den Dämmerzustand symbolisieren, „der im Grunde die ganze Ära Merkel geprägt hat.“
Schon nach vier Wochen Lockdown hätte die Politik konsequent über die wirtschaftlichen Folgen diskutieren müssen, „denn schon vier Wochen vermindertes Bruttosozialprodukt beeinträchtigen alle finanziellen Pläne unseres Gemeinwesens für Jahre“ (Ende) Auch darüber wird bis heute geschwiegen, obwohl es sich inzwischen um viele Monate handelt. Bernd Raffelhüschen weist darauf hin, dass es in Deutschland in normalen Zeiten um die 300000 Kurzarbeiter gab, jetzt sind es 3 Millionen. Davon sind anderthalb Millionen verdeckt arbeitslos.
Was passiert, wenn das Kurzarbeitergeld nicht mehr gezahlt wird? Es wird geschätzt, dass mindestens ein Viertel der Gastronomiebetriebe und der Einzelhandelsgeschäfte bankrottgehen werden, aber darüber wird im derzeitigen Wahlkampf geschwiegen. In der Corona-Krise wurde die größte Schuldenlast der Nachkriegszeit aufgehäuft. Dabei finanzieren nur noch 10 Millionen Menschen, die gute Einkommen haben, den gesamten Staatshaushalt. Leistungsträger, die an echter Wertschöpfung beteiligt sind, gibt es nur noch wenige. Es steigen nur die Sozialausgaben.
Gerhard Hüther führt aus, dass es einer neuen Kopernikanischen Wende bedarf, um aus der Krise zu kommen. In den letzten Jahrzehnten hat sich unsere Gesellschaft immer mehr hin zu einem betreuten Leben entwickelt. Sie besteht inzwischen aus verschiedenen Betreuungsmodulen, vom Kindergarten bis zum Altersheim. Die Meisten sind nicht mehr in der Lage, ihr Alltagsleben allein zu meistern. Das verschärft sich in der Pandemie, wenn die Angst dazu kommt und auf Menschen trifft, die nur unzureichende Ressourcen zur Bewältigung ihrer Ängste herausgebildet haben – und es verstärkt die Neigung, sich einem starken Führer anzuvertrauen, der Regeln vorgibt, die man befolgen kann.
Es gibt, so Hüther, drei Vertrauens-Ressourcen: das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, das Vertrauen, es mit Anderen gemeinsam zu schaffen und darin, dass aus einer Krise auch etwas Gutes erwachsen kann. Wer kein Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten hat, kann kaum nötige Kompetenzen entwickeln. Die Dienstleistungsgesellschaft trägt zum Abbau individueller Kompetenzen bei. Wer sich von Jugend an die Fußnägel schneiden ließ, gerät in Panik, wenn diese Dienstleistung nicht mehr verfügbar ist.
„Wir kommen… mit dem tiefen Grundbedürfnis nach Verbundenheit und Nähe in die Welt. Und genauso wichtig ist unser zweites Grundbedürfnis, das nach Autonomie und Freiheit…Wenn diese Bereiche hinreichend gut eingemauert, überbaut und eingewickelt sind“ ähnelt ein Mensch allmählich einem Automaten ohne eigene Bedürfnisse. Dann werden auch alle Menschen, die ihre Autonomie bewahrt haben, nicht mehr akzeptiert und ausgegrenzt.
Wohl noch nie in der Geschichte der Menschheit hat sich eine ganze Erwachsenengeneration aus Angst vor Ansteckung ihre Kinder in eine Situation gebracht, „in der sie fast alle ihre lebendigen Bedürfnisse unterdrücken mussten, um die von ihnen erwarteten Verhaltensweisen einhalten zu können.“
Was das bei Kindern und Jugendlichen anrichtet, ist kein Thema.
Unsere Gesellschaft verwehrt Kindern und Jugendlichen ihr lebendiges Grundbedürfnis nach eigenen Gestaltungsmöglichkeiten, sie können kaum noch tun, wofür sie sich interessieren und zeigen, was sie draufhaben. Sie können nicht einmal mehr unbefangen Freundschaften schließen.
Wenn Kinder gezwungen werden, ihre Bedürfnisse zu unterdrücken, sind sie eines Tages weg. Sie kommen von allein auch nicht wieder. Sie werden abhängig von Ersatzbefriedigungen, die idealen Konsumenten, statt kreative Schöpfer.
Der Ausweg aus diesem Dilemma ist zu erkennen, dass man die Welt und die Anderen nicht ändern kann. Man kann nur sich selbst ändern. Man muss lernen, sich selbst und seine Bedürfnisse wieder wahr zu nehmen, an die eigenen Fähigkeiten zu glauben und sie entwickeln. Nur so entstehen starke Persönlichkeiten, die nicht mehr abhängig, sondern autonom sind.
Schon Immanuel Kant hat die selbstverschuldete Unmündigkeit des Menschen als das große Problem moderner Gesellschaften erkannt.
Hüthers Kopernikanische Wende setzt hier an. Es geht um die Selbstemanzipation des Menschen als verantwortliches Wesen, das in die Natur und in das Leben eingebunden ist. Man kann das Leben nicht beherrschen, nicht das Virus besiegen oder das Klima regulieren. Aber man kann sich selbst gewinnen. Das ist die eigentliche Lehre aus der Corona-Krise.