Es hat ganze fünf Jahre gedauert, ehe das im autoritären Russland bereits 2011 erschienene und 2012 preisgekrönte Buch des bedeutenden russischen Schriftstellers Daniil Granin „Mein Leutnant“ bei uns erschien. Dafür bedurfte es noch einer besonderen Förderung der Mikhail Prokhorov-Foundation, die sich für die Übersetzung und Verbreitung russischer Literatur einsetzt.
Das Vorwort hat der Altbundeskanzler Helmut Schmidt verfasst. Schmidt und Granin standen sich im Zweiten Weltkrieg an der Leningrader Front als Feinde gegenüber. Erst 2014 lernten sich die beiden persönlich kennen, als es bereits undenkbar schien, dass sie sich je bekämpft haben könnten.
Stalins verbrecherische Kriegsführung ist nie wirklich ein Thema gewesen, obwohl viele davon gewusst haben. Die Briten und die Amerikaner schwiegen, weil Stalin ihr Verbündeter war. Nach Stalins Tod und der folgenden Entstalinisierung wurde Kritik an seiner Kriegsführung ausgespart, weil die Legende vom heldenhaften „Großen Vaterländischen Krieg“ zum unerschütterlichen Selbstverständnis der Sowjetunion gehörte.
Daniil Granin setzt dieser Legende die historische Wahrheit entgegen. Er schreibt aus der Perspektive eines Zeitzeugen, der im Schützengraben gesessen hat: „Unser Krieg war ungeschickt, unsinnig, aber das wurde nicht gezeigt, darüber wurde nicht geschrieben. Unser Krieg war ein anderer“.
Die Schilderung dieses anderen Krieges ist so fesselnd, dass ich das Buch, nachdem ich es am Sonnabend in der Buchhandlung entdeckt hatte, bis Sonntag Vormittag nicht mehr aus der Hand legen konnte.
Es beginnt mit der Schilderung des ersten Bombenangriffs, den Granin miterlebt hat. Der Krieg ist erst einige Tage alt. Granin, der sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hat, marschiert mit andern Volkswehrmännern an die Front, die sich bereits in voller Auflösung befindet. Die Rote Armee, angeblich die stärkste Armee Europas, weicht auf ganzer Linie panisch zurück. Die Deutschen können ungehindert angreifen. Granin erlebt einen Tieffliegerangriff an einem brütend heißen Julitag. Auf offenem Feld. Die Sonne scheint, die Bienen summen, die Vögel zwitschern -dann bricht die Hölle los. Granin, der sich unter einem Busch zusammenkrümmt und versucht, mit der Erde zu verschmelzen, erlebt staunend, wie ungerührt die Natur von dem Bombardement ist. Sobald die Ruhe wieder einkehrt, zwitschern die Vögel, summen die Bienen, krabbeln die Käfer, als wäre nichts geschehen.Als sich der Staub gelegt hat, kommt auch die Sonne wieder zum Vorschein. Nur bescheint sie nicht mehr eine liebliche Sommerwiese, sondern ein Schlachtfeld mit etlichen Toten.
Die Volkswehr wurde ohne ordentliche Uniformen und ohne Ausrüstung losgeschickt. Die ersten Gewehre und Pistolen tauschen sich die Männer von den zurückweichenden Soldaten ein, für Machorkan oder Wodka. Im ersten Kriegsjahr fehlte es auch an Waffen für die reguläre Armee. Die Soldaten wurden zum Teil unbewaffnet gegen die deutschen Stellungen getrieben. Verteidigungsstellungen gab es nicht. Der Befehl lautete Angriff und keinen Fußbreit zurückweichen, was es auch koste. Als Granins Einheit im Luga-Abschnitt auf eine vorbereitete Verteidigungsstellung traf, gelang es der Volkswehr tatsächlich, den deutschen Vormarsch für ein paar Tage zu stoppen. Wie Granin später erfuhr, war General Pjadyschew, der die Operationsgruppe Luga kommandiert hatte, dafür verurteilt worden, dass er eigenmächtig begonnen hatte, Verteidigungsstellungen zu bauen. Er ist kurz darauf im Lager umgekommen.
„Die Soldaten hatten ihre eigene, bittere Wahrheit: fliehende Truppen, die ihre Führung verloren hatten, eingekesselte Divisionen und Armeen, aus denen sie zu tausenden in Gefangenschaft gerieten, verbrecherische Befehle von Kommandierenden, die ihre Vorgesetzten mehr fürchteten als ihre Gegner.“
Die Überlebenschancen eines Soldaten an der Front betrugen im ersten Kriegsjahr vier Tage. In den ersten drei Wochen verlor die Rote Armee 28 Divisionen und die Hälfte des Bestandes von weiteren 70 Divisionen. Diese exorbitant hohen Verluste kamen durch eine verbrecherische Kriegsführung zustande. Granin beschreibt eines von tausenden Beispielen: In Leningrad war es immer wieder misslungen, den Brückenkopf am linken Ufer der Newa zu verbreitern.
„Die Armeeführung schickte beharrlich eine Einheit nach der anderen, ein Regiment nach dem anderen, sie wurden von den Deutschen bis auf den letzten Mann vernichtet. …ein Angriff folgte dem andern, immer wieder wurde frontal angegriffen…Der Fleischwolf wurde nicht angehalten.“
Schließlich gelang es, sich bis zu den Stacheldrahtverhauen der Deutschen durchzukämpfen. Erst dort stellte sich heraus, dass man nichts hatte, womit man den Stacheldraht hätte durchschneiden können.
Es fehlte an allem: Kleidung, Decken, Gewehren, Munition, Nahrung, Medikamenten. Die Telefone stammten aus dem Ersten Weltkrieg, Funkverbindung gab es nicht.
Granin beschreibt, wie sein Vorgesetzter auf Soldaten eines Granatwerfergeschützes stößt, die müßig im Gras sitzen. Auf seine Frage erklärten sie, dass sie keine Granaten hätten, die sie abschießen könnten. Er befahl den Soldaten, sich am Angriff der Fußtruppen zu beteiligen. Als die Granaten später eintrafen, war niemand da, der das Geschütz hätte bedienen können. Granin wundert sich bis heute, dass es unter diesen Umständen der Roten Armee gelingen konnte, in Ostpreußen einzumarschieren.
Die Verluste an Soldaten wurden geringer, weil sie lernten, wie man sich in der Schlacht bewegen muss, aber das Verheizen von Menschen durch die Generalität hörte bis zum Schluss nicht auf. Bei der Schlacht auf den Seelower Höhen wurde das Kampffeld mit tausenden Scheinwerfern beleuchtet, so dass die vorrückenden sowjetischen Soldaten von den weit unterlegenen Volkssturmkräften wie Schiessbudenfiguren abgeknallt werden konnten.
Beim Kampf um den Reichstag, der von Stalin fälschlich für ein Symbol von Hitlerdeutschland gehalten wurde, mussten tausende Soldaten bei immer neuen Frontalangriffen auf das Gebäude, das lediglich von einer französischen SS-Einheit verteidigt wurde, ihr Leben lassen. Das Gebiet zwischen der Westseite des Brandenburger Tores und dem Südeingang des Reichstages ist von Blut getränkt. Erst als ein unbekannter Offizier auf den Gedanken kam, eine Pontonbrücke über die Spree bauen zu lassen, um über den Nordeingang in den Reichstag einzudringen, konnte das Gemetzel beendet werden. Die Namen der Soldaten der Brückenbaubrigade gehören zu den eindrucksvollsten Graffiti im Bundestag.
Die Erfahrungen der Menschen, die in den Fleischwolf gerieten, waren nicht von Interesse. Im Krieg durfte nicht über die Fehler und Mängel gesprochen werden. Nach dem Krieg war „Schützengrabenliteratur“ verpönt. Dagegen waren die Memoiren der Generäle fester Bestandteil der Propaganda. Über die ungeheuerlichen menschlichen Verluste wurde ein Mantel des Stillschweigens gebreitet.
Lange nach dem Krieg wurde Granin zu einem Treffen mit Jugendlichen und Zeitzeugen eingeladen. Außer ihm war auch ein General da, der an der Leningrader Front gewesen war. Er erzählte in seinem Vortrag von einem andern Krieg, als der, den Granin mitgemacht hatte. Eine Heldengeschichte von immer neuen Angriffen auf die deutschen Stellungen. Ein Mädchen wollte wissen, warum es denn nicht gelungen sei, den Blockadering zu durchbrechen. Als Granin daraufhin erzählte, wie es wirklich war, unterbrach ihn der General rüde, das könne Granin aus seiner „Schützengrabenperspektive“ gar nicht wissen. Die Generäle, das war Granins Erfahrung, zeigten sich höchst selten an der Front. Stalin war nie auch nur in der Nähe des Frontbereichs, dafür war er zu feige.
Sehr berührend ist, wie Granin sich selbst sieht. Seine Kriegserlebnisse beschreibt er in der dritten Person. Sein Leutnant hat mit dem Vorkriegs-Granin, der just am 21. Juni 1941, einem wunderschönen Sommertag, in einem Wäldchen am Stadtrand zum ersten mal seine spätere Frau Rimma verführte und bei der Rückkehr in die Stadt von der Nachricht des Kriegsbeginns überrascht wurde, kaum etwas zu tun. Der spätere Granin kann den Leutnant, der sich freiwillig für den Krieg entschied, nicht verstehen. Sein Leutnant hasste die Deutschen, konnte aber auch das „Stabsgesindel“ nicht leiden. Er trifft auf erstaunliche viele Antistalinisten in der Armee und im verhungernden Leningrad, die trotzdem kämpften. Nach dem Krieg hatte der Leutnant jahrelang Schwierigkeiten, ins Leben zurückzufinden. Er hatte sich seiner Frau entfremdet und konnte seine Tochter lange nicht als sein Kind ansehen. Er musste erleben, dass sein Fronteinsatz nicht zählte und die „Etappenhengste“ die Schlüsselstellungen beim Wiederaufbau einnahmen.
Er hatte während der Blockade erlebt, dass die Wirtschaftsleiter und die Politiker nicht hungerkrank waren, sondern gut genährt aussahen. Diese Nomenklatura kam erst nach dem Krieg ums Leben, als während der „Leningrader Affäre“ alle leitenden Kader des blockierten Leningrads vor Gericht gestellt und noch am selben Tag erschossen wurden. Die Ironie der Geschichte ist, dass es Leute traf, die, als sie noch die Macht hatten, selbst Erschießungslisten aufgestellt hatten.
Granin hat aber auch die wirklichen Helden des Krieges erlebt.
Als Soldat machte er den Kampf in Puschkin mit. Beim Abzug gab der örtliche Kommandant den Befehl, den Palast in die Luft zu sprengen. Dem stellten sich ein alter Hausmeister und ein junges Mädchen entgegen, die den Soldaten mit den Minen den Zugang versperrten. Der Palast wurde nicht gesprengt, aber durch die weiteren Kämpfe scheinbar irreparabel geschädigt. Der Wiederaufbau begann sofort nach der Befreiung, also mitten im Krieg. Nach den Leiden der Blockade entschieden sich die Leningrader, trotz bitterster Wohnungsnot, die Palastbauten wieder zum Leben zu erwecken, „an Stelle der des Lebensnotwendigen die Schönheit zurückzugewinnen“.
Der Wiederaufbau gleicht einem Wunder. Es ist heute unvorstellbar, dass die Pacht von Puschkin, Pawlowsk und Peterhof aus Bruchstücken und Scherben wiedergeboren wurde.
„Die untergehende Sonne spiegelt sich in den Fenstern des Katharinen-Palastes wider. An der Cameron-Galerie findet man keine Einschusslöcher mehr. Der Park, der Teich, die Tschesmen-Säule… Was ist aus dem rührenden und wunderlichen Museumsmitarbeiter geworden? Hat er überlebt? War er überhaupt wunderlich?“
Auf jeden Fall ist er ein Beispiel für die vielen wahren, aber unbekannten Helden des Krieges. Ihnen setzt Granins Buch ein Denkmal.