100 Jahre Musa Dagh

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Von Gastautor André Thess

Am 12. September 1915 retteten französische Kriegsschiffe 4000 armenische Dorfbewohner vor der türkischen Verfolgung. Einhundert Jahre später sind die Spuren des Geschehens nahezu verblasst. Für aufmerksame Wanderer gibt es trotzdem einiges zu entdecken.

Toros Manca spült die frisch gegrillten Hähnchenkeulen mit einem kräftigen Schluck selbstgebranntem Raki hinunter und zündet sich eine Zigarette an. Hier am Musa Dagh – dem Mosesberg – ist seine Heimat. Toros weist 1000 Meter in die Tiefe auf einen imaginären Punkt im Mittelmeer. Da etwa muss die „Guichen“ geankert haben.

Der Armenier Toros, sein türkischer Freund Apo, meine Frau und ich sind auf den Musa Dagh gestiegen, um eines legendären Glücksfalls inmitten der größten Tragödie des armenischen Volkes zu gedenken. Am 12. September 1915 retteten französische Kreuzer unter Führung der Guichen 4058 Armeniern das Leben. Die Bergbauern hatten sich dem türkischen Deportationsbefehl widersetzt, am Musa Dagh verbarrikadiert und unter dem Kommando von Moses Der Kalousdian fast zwei Monate lang gegen die türkischen Belagerer gekämpft. Franz Werfel hat das Schickal der Dorfbewohner in seinem 1933 erschienenen Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ beschrieben. Der aus dem Dorf Yogunoluk stammende Kalousdian hatte Werfel als Vorbild für seinen Romanheld Gabriel Bagradian gedient.

Bis heute ist der Völkermord an den Armeniern von 1915 in der Türkei ein Tabuthema. Wie sieht es einhundert Jahre später am Ort des Geschehens – auf dem heutigen Territorium der Türkei – aus?

Wer heute die Spuren des Aufstandes vom Musa Dagh erkunden will, fliegt von Istanbul nach Antakya (Hatay) nahe der syrischen Grenze. Das frühere Antiocha am Orontes ist von großen Touristenströmen verschont und verströmt in der alten Innenstadt noch ein wenig den Geist der antiken Handelsmetropole. Mit einem Mietwagen ist man von dort in einer guten Stunde in dem 140-Seelen-Dorf Vakifli am Fuße des 1350 Meter hohen Musa Dagh. Anders als das heute türkische Yogunoluk ist Vakifli rein armenisch besiedelt – das einzige Dorf dieser Art in der Türkei. Hier wohnt der Biobauer Toros, dessen Familie seit Generationen am Mosesberg verwurzelt ist. Die Kommunikation mit Toros ist etwas schwierig, da er nur Armenisch und Türkisch spricht. Doch während des herzlichen Abendessens bei ihm zu Hause vermittelt er uns bei gegrilltem Fisch, Auberginenmus und paprikagewürzten Weizengrießbouletten auch ohne Worte, dass die Tour am nächsten Tag um fünf Uhr beginnen muss, um rechtzeitig vor der Mittagshitze oben zu sein.

Mit seinem allradgetriebenen Laster chauffiert uns Toros über einen hoplrigen Feldweg zum Ausgangspunkt der Tour. Ein unmarkierter Hirtenpfad, der ohne Führer nicht auffindbar ist, führt zwei Stunden bergauf bis zum ersten Höhepunkt der Tour. Auf einer Fläche von etwa zwei Fußballfeldern erstreckt sich das von Franz Werfel als „Stadtmulde“ bezeichnete Hochplateau. Keine Gedenktafel deutet auf den Heldenmut hin, mit dem sich hier tausende Armenier gegen die türkische Übermacht zur Wehr setzten. Nur Rümpfe von Natursteinmauern mit rechteckigem Grundriss erinnern an die hastig errichteten Gebäude der armenischen Rebellen. Die Reste einer Brunnenanlage zum Sammeln von Regenwasser sind auch zu sehen.

Auf dem Weiterweg nach oben bleibt der Gipfel des Musa Dagh rechts liegen. Nach einer halben Stunde erscheint kurz vor der Steilküste zum Mittelmeer ein auffallender Metallmast. An dieser Stelle hatten die Armenier eine Fahne mit der Aufschrift „Christen in Not“ gehisst, um Kriegsschiffe auf sich aufmerksam zu machen. Neben dem Mast befindet sich der Torso eines 1932 errichteten Denkmals in Form eines Schiffes. Das Monument war später zerstört worden; heute erinnert nur der Rumpf an die einstigen Ausmaße. Hier oben ist das Ziel der Gedenktour erreicht. Außer den uns ist an diesem historischen Tag niemand zu sehen. Doch als wollte wenigstens die Natur ein Zeichen setzen, schraubt sich ein großer Vogelschwarm vom Meer zum Denkmal in die Höhe und fliegt dann nach Süden fort.

Neben den Ruinen am Musa Dagh gibt es jedoch auch in den ehemaligen Armenierdörfern einiges zu erkunden. Vakifli besitzt eine schmucke christliche Kirche, eine Pension sowie einen Marktplatz, auf dem Marmelade, Honig und Oliven verkauft werden. Zwei Kilometer weiter steht in Hidirbey der Mosesbaum, der 3000 Jahre alt sein soll und regelmäßig von türkischen Touristen besucht wird. Im Dorfkern steht eine verlassene armenische Villa, auf deren Terrasse die Karkasse einer alten Singer-Nähmaschine vor sich hinrostet. Leser des Werfel-Buches werden dabei an „jene Schiffsladung von Singer-Nähmaschinen“ erinnert, „die Awetis Bagradian nach einem besonders glücklichen Geschäftsjahr an fünfzig bedürftige Familien der Dörfer verteilen ließ.“

Unsere Gedenkminute auf dem Musa Dagh endet mit einem Picknick und traumhaftem Blick über die Steilküste aufs Mittelmeer. Die Fernsicht weckt den Wunsch nach einer baldigen Würdigung der Widerstandskämpfer vom Musa Dagh und sei es nur mit einer Gedenktafel. Ein Traum, der wohl nicht in Erfüllung gehen wird, solange das Geschehen des Jahres 1915 nicht aufgearbeitet ist. Das nahe gelegene liegende Grab der 18 Märtyrer befindet sich ebenso wie das Schiffsdenkmal in einem beklagenswerten Zustand. Dies hindert Toros gleichwohl nicht, seinen toten Landsleuten vor dem Abstieg ins Tal noch einmal die Ehre zu erweisen. Mitten im Trümmerfeld bekreuzigt er sich und steht eine Minute lang mit gesenktem Kopf da.



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