30 Jahre Friedliche Revolution

Veröffentlicht am

Fünfundzwanzigster September 1989

Ausnahmezustand in der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Prag. Fast 900 Menschen befinden sich auf dem Gelände, das sie nicht verlassen wollen, bis sie sicher sein können, in den Westen reisen zu dürfen. Die Atmosphäre ist zum Zerreißen gespannt. Der aus der DDR angereiste Rechtsanwalt Vogel, sagt den Botschaftsflüchtlingen die Ausreise in den Westen innerhalb von sechs Wochen zu, wenn sie sich bereit erklären, die Botschaft zu verlassen und in die DDR zurückzukehren. Nach Angaben der DDR-Behörden sollen zweihundert Flüchtlinge diesem Angebot gefolgt sein.

Der immer noch kranke Parteichef Honecker hatte seinen treuesten Gefolgsmann Günter Mittag zu seinem Vertreter bestimmt. Mittag hatte auf der Sitzung des Politbüros am 19. September Maßnahmen zur Eindämmung der Oppositionsbewegung beschließen lassen. Die neuen oppositionellen Bewegungen sollten „im Keim erstickt“ werden, damit sie keine „Massenbasis“ bekämen. Die hatten sie aber schon längst.

Die Politbürokraten, die immer noch glauben, der „Imperialismus“ würde die Bürgerbewegung schüren, sind nicht in der Lage, die wirkliche Situation im Lande zu erkennen, geschweige denn, richtige Maßnahmen zu ergreifen. Was sie befehlen, verstärkt die Spannungen.
Schon an der Autobahn waren Horch-, und Guckposten stationiert. In Leipzig wurden 1500 zusätzliche Sicherheitskräfte bereitgestellt, um eine Demonstration nach dem Montagsgebet zu verhindern. Die Innenstadt ist komplett abgesperrt. Trotzdem strömen Tausende zur Nikolaikirche. Nachdem das Gotteshaus wegen Überfüllung geschlossen werden musste, verharrt eine riesige Menschenmenge vor dem Gebäude.
Das Gebet, gestaltet von Pfarrer Christoph Wonneberger hat gewaltlosen Widerstand zum Thema. Am Schluss seiner Predigt, bei der auch die Namen der in den vorangegangenen Wochen Inhaftierten verlesen wurden, sagt er: „Deshalb müssen wir, die wir hier versammelt sind, strikt das Prinzip der Gewaltlosigkeit vertreten. Das gilt auch gegenüber Provokateuren, die in unseren Reihen sind.“ Danach stimmen die Gottesdienstteilnehmer das Lied „We shall overcome“ an und es beginnt die erste Massendemonstration der DDR, die von Polizei und Sicherheitskräften unbehelligt blieb.
Die Sicherheitskräfte sind von der bloßen Anzahl überrascht. Etwa 5000 Menschen marschieren über den Ring bis zum Hauptbahnhof. Die Polizeiketten umgingen die Menschen einfach. Immer mehr Passanten schließen sich an. Stasichef Mielke ist vollkommen überrascht, als er bei seinen Telefonaten erfährt, dass ein Eingreifen mit den üblichen Mitteln nicht möglich ist. Er bellt sinnlose Befehle in den Hörer. Am Hauptbahnhof löst sich die Demonstration friedlich auf.

Im Stasihauptquartier in Berlin verlangt Mielke, dass sich so etwas nicht wiederholen dürfe. Noch in der Nacht beginnen die Vorbereitungen für den kommenden Montag.

In Moskau wird im Gesetz mit dem unverbindlichen Titel „Über den Modus der Schlichtung von Arbeitskonflikten“ ein Streikrecht beschlossen. Damit erhalten die Arbeiter der SU ein lange vorenthaltenes Recht zurück.


1989: Tagebuch der Friedlichen Revolution
1. Januar bis 31. Dezember
Vera Lengsfeld



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