Thomas Mann, die Kurische Nehrung und die vollständige Seele

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Als wir Königsberg verlassen müssen regnet es. Dadurch wirkt die wiedererstandene Uferpromenade am Pregel wie echt, als stünden die alten Häuser noch, statt ihrer Repliken.

Als wir an der 40-jährigen Bauruine des Dom Sowjetow, die auf dem Gelände des ehemaligen Schlosses steht, vorüber fahren, überrascht uns Tamara, unsere Fremdenführerin, mit der Nachricht, dass vor wenigen Wochen endlich der Abriss dieses Hochhauses und der teilweise Wiederaufbau des Schlosses beschlossen wurde.

Die Zerstörung des Schlosses war eine Art Gemeinschaftswerk. Sie begann mit dem britischen Bombardement von Königsberg Ende August 1944, das ausschließlich gegen zivile Ziele gerichtet war und als eine Art Training für die Bombardements von deutschen Städten im Winter und Frühjahr 1945 angesehen werden kann. Sie wurde fortgesetzt während des Kampfes um Königsberg im Januar 1945 und vollendet mit der Brandschatzung der Stadt nach ihrer Eroberung durch die Sowjets. Der Wiederaufbau des Schlosses wäre ein starkes Signal gegen den verbrecherischen Totalitarismus des letzten Jahrhunderts.

Wir machen im Seebad Rauschen Station, das kaum zerstört wurde, dessen alter Charme aber vom Kommerz verdeckt wird. Vor lauter Bretterbuden, sieht man die schönen hölzernen Strandhäuser kaum. Thomas Mann weilte hier Anfang der 30er Jahre, nachdem er sein Ferienhaus in Bad Tölz verkauft hatte. Der Ort war ihm zu langweilig, er suchte etwas Ursprünglicheres. Man erzählte ihm von Nidden auf der Kurischen Nehrung. Mann fuhr hin und beschloss sofort, sein neues Sommerhaus hier auf dem Schwiegermutterberg zu errichten.

Die Kurische Nehrung ist der schmale Landstreifen zwischen Memel und Königsberg, zwischen dem Kurischen Haff und der Ostsee. Der Landstreifen ist ca. 90 km lang und so schmal, dass man ihn in 20 Minuten oder einer halben Stunde bequem vom Haff zur See überqueren kann.

Es ist sandig, waldig und sumpfig. Meine Worte können Ihnen keine Vorstellung von der eigenartigen Primitivität und dem großartigen Reiz des Landes geben. Ich möchte mich hier auf Wilhelm von Humboldt berufen, der, speziell von Nidden so erfüllt war, dass er erklärte, man müsse diese Gegend gesehen haben, wie man Italien oder Spanien gesehen haben müsse, wenn einem nicht ein Bild in der Seele fehlen soll.

Jeder, der auf der hohen Düne steht und auf das Haff schaut, versteht Mann und Humboldt sofort.

Dabei ist die Landschaft das Resultat einer vom Menschen verursachten ökologischen Katastrophe. Im Mittelalter wurde der Wald radikal abgeholzt. Der Sandboden fand keinen Halt mehr und begann zu wandern. Häuser und Gehöfte wurden verschüttet und kamen wieder frei. Inzwischen unterschiedet man zwischen den weißen, reinen Sanddünen und den grauen Dünen, die mit Trockenpflanzen bewachsen sind. Die Tendenz ist, dass die weißen Dünen verschwinden werden, weil sich die Natur allmählich zurückholt, was der Mensch ihr geraubt hat. Davor gibt es keinen Schutz. Die weißen Dünen kann der Mensch ebensowenig retten, wie das Klima. Noch sind sie da und verleihen der Landschaft ihren eigenartigen Reiz. Dazu kommt die wohltuende Stille, die wie eine schützende Glocke über dem Land liegt. Seit meiner Stunde dort sind die Bilder meiner Seele vollständig.

Thomas Manns Haus wurde in nur einem Jahr gebaut. Es verfügte über allen, in Nidden damals unbekannten, Luxus wie fließendes Wasser und WC. Es wirkt auf die heutigen Wohlstandsbürger angenehm bescheiden. Manns Arbeitszimmer ist nur etwa 8 Quadratmeter groß, aber der Blick von seinem Schreibtisch auf das Haff ist atemberaubend. Hier hat der Dichter nur drei glückliche Sommer verbracht, insgesamt neun Monate, bis die Familie ins Exil gehen musste.

Aber in Kalifornien weilte er oft in Gedanken in Nidden, denn die Landschaft, die nichts Einschmeichelndes hat, war ihm ans Herz gewachsen.

Nach den Manns wurde das Haus von Herman Göring in Beschlag genommen, glücklicherweise war er aber nie hier. Dann kamen sowjetische Funktionäre. Nach dem Krieg ist der Erhalt des Mann-Hauses vor allem den Bemühungen des litauischen Schriftstellers Antanas Venclova zu verdanken, der 1967 gegenüber den sowjetischen Behörden die Umwandlung in eine Gedenkstätte durchsetzt. Thomas Manns Unangreifbarkeit in den Zeiten geistiger Abschottung genießt unter litauischen Intellektuellen ein hohes Renommee. Er bietet Schutz für Lesungen und Diskussionen im Niddener Hause. So werden schon in den siebziger Jahren Weichen für das heutige Kulturleben Litauens gestellt. Nach allmählichem Verfall wurde das Haus nach der Gründung Litauens restauriert und ist ein Magnet nicht nur für Literaturfreunde. Davon zeugt die Ausstellung im heutigen Museum, die hauptsächlich aus Bildern von diesen Sommeraufenthalten und Texten besteht.

Thomas Mann: „Ich kann meine Worte nicht passender schließen als mit dem Wunsche, dass der eine oder andere mich besuchen möge…“



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