30 Jahre Friedliche Revolution

Veröffentlicht am

Zweiundzwanzigster Mai 1989

In der Leipziger Nikolaikirche findet das nun schon traditionelle Montagsgebet statt.
Wieder riegelt die Polizei während des Gebetes die umliegenden Straßen ab. Niemand soll das Gotteshaus unbemerkt verlassen können. Alle Besucher des Gebetes werden registriert. Es sind mehrere Ausreisewillige dabei. Sie reagieren auf die Polizeischikanen mit „Wir-wollen-raus!“- Rufen.

Zwanzig Jahre später ist die Sensation des Tages die Entdeckung zweier Mitarbeiter der Stasiunterlagenbehörde, dass der Kriminalbeamte Kurras, der am 2.6.1967 den Studenten Benno Ohnesorg erschoss, bezahlter Agent der Staatssicherheit der DDR und geheimes SED-Mitglied war. Der Mann hatte eigentlich in die DDR gehen und Volkspolizist werden wollen, bekam aber den Parteiauftrag, in Westberlin zu bleiben – als Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi bei der Westberliner Polizei. Spätestens jetzt wäre ein Buch fällig, dass sich mit den Ereignissen der Geschichte der BRD befasst, auf die von der Staatssicherheit der DDR aktiv Einfluss genommen wurde. Schändung von Jüdischen Friedhöfen, Verleumdungskampagnen gegen westdeutsche Politiker, beeinflusste Bundeskanzlerwahlen, Politikerrücktritte bis hin zu einem Bundeskanzler, das ist eine sehr unvollständige Aufzählung von Stasi-Aktivitäten in der westdeutschen und Westberliner Politik. Der Mord an Ohnesorg ist ein entscheidender Wendepunkt in der westdeutschen Geschichte, denn er war der Auslöser für gewaltsame Proteste gegen das „repressive Regime“, als das die Studenten-Revoluzzer die Bundesrepublik zu betrachten pflegten. Dieser Mord war der Vorwand für die Gründung der RAF, deren Überreste ironischerweise am Ende in die DDR abtauchten, mit Hilfe der Staatssicherheit, die an ihrer Wiege stand.

Erstaunlich war, wie schnell einige Linke eine Sprachregelung bereit hatten, um die Erkenntnis, was diese Entdeckung für die Neubewertung der jüngsten deutschen Geschichte bedeutet, nicht an sich heranzulassen. So erklärte Oskar Negt, einer der geistigen Väter der 68er-Bewegung, in einem Interview allen Ernstes, die Springerpresse und die Stasi hätten jede auf ihre Weise „kritischen Austausch” verhindert. Als ob die studentischen Revoluzzer an einem “Austausch“ interessiert gewesen wären! Sie wollten Springer beseitigen, nicht mit ihm diskutieren. Die Studentenbewegung, behauptet Negt weiter, hätte sich immer gegen das „Terrorsystem“ DDR ausgesprochen. Das ich nicht lache! Außer Dutschke hat sich kaum jemand zur DDR geäußert. Wo waren denn die studentischen Proteste, als in Prag sowjetische Panzer den Versuch, einen Sozialismus mit menschlichem Gesicht zu errichten, brutal beendeten? Statt dessen hat man Bilder des Massenmörders Mao hochgehalten und dem Massenmörder Pol Pot Ergebenheitsadressen geschickt.

Leute wie Negt unterscheiden nicht zwischen einem Rechtsstaat und einer Diktatur. Sie sprechen von „autoritären Systemen”, die auf „kritische Öffentlichkeiten” mit Gewalt reagieren.

Die Gewalt von 1968 ging, wie sich durch die Enttarnung von Kurras herausstellt, von einem Agenten eines totalitären Systems aus, das so den Vorwand schuf für die radikale Linke, die Demokratie in der BRD mit Bomben und Gewehren zu bekämpfen.

Dass die 68er-Bewegung die BRD toleranter und demokratischer gemacht hat, ist die Lebenslüge der Linken. Tatsache ist, dass der Rechtsstaat sich als stark genug erwies, sich nicht in den Totalitarismus zurückbomben zu lassen. Totalitarismus gibt es immer noch, in Form von Ausgrenzung, Diskursverweigerung und Kampagnen gegen Andersdenkende. Das ist das Erbe, das die 68er uns hinterlassen haben. Die Negts sind heute so verknöchert, wie einst die Politbürokraten. Sie werden sich auf die Dauer der Neuinterpretation der Geschichte nicht widersetzten können.


1989: Tagebuch der Friedlichen Revolution
1. Januar bis 31. Dezember
Vera Lengsfeld



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