Toulouse am Sonnabend Morgen. Das Thermometer zeigt 8 Grad Celsius. Es regnet. Wir sehen auf unseren Handys mit Neid, dass in Berlin die Sonne scheint und sommerliche Temperaturen herrschen, wie sie für den Süden Frankreichs zu erwarten gewesen wären.
Als wir auf den Platz vor unserem Hotel treten, haben wir das Gefühl, als hielte die Stadt den Atem an. Wo gestern Abend, als wir von unserem Abschiedsessen kamen, die Gegend förmlich vor Leben vibrierte, ist es seltsam ruhig. Auf der breiten Straße in der Nähe, wo man gestern von einer Ampel zur nächsten 20 Minuten brauchte, fährt kaum ein Auto. Am Place du Capitol, den wir auf unserem Weg zum Museum passieren, stehen Soldaten mit vorgehaltenen Gewehren.
Das Capitol ist verriegelt. Von den Hochzeitspaaren, die hier an Sonnabenden die Szene beherrschen, ist nichts zu sehen. Auf dem Markt wird noch verkauft, es sind aber nur vereinzelte Käufer da.
Ladenbesitzer verrammeln ihre Geschäfte, Kellner stapeln Stühle und Tische auf Haufen.
Durch die Stadt schwirren Gerüchte. Die Gelbwesten haben für heute zwei Demonstrationen angesagt. Keiner scheint etwas Genaues zu wissen. Aber eins haben die Toulouser in den letzten Wochen erfahren: Die Gelbwestendemos hier sind härter, als man sie von Paris kennt, man sieht im Straßenbild etliche Fensterscheiben, die in der vergangenen Woche gesplittert sind.
Im Museum vergessen wir über dem Anblick gotischer Kunst, was draußen vor sich geht. Dann erreicht uns mitten im Rundgang ein Anruf. Die Stadt würde ab 14 Uhr abgesperrt. Wir müssten, um zum Flugplatz zu gelangen, schon um 13:00 Uhr abfahren.
Auf dem Weg zum Hotel sehen wir, dass Soldaten, Polizisten, Spezialeinheiten inzwischen das Straßenbild beherrschen. Vor einer Boulangerie hat sich eine Lange Schlange von Einsatzkräften gebildet, die sich vor dem Kampf noch etwas Süßes gönnen wollen. Wenige Meter weiter werden die Gendarmen in ihren Einsatzwagen mit Pizza versorgt.
Im Hotel flimmern die neuesten Nachrichten über den Bildschirm. In Paris hat die Demo bereits begonnen. Ein Demonstrant hält ein Schild in die Kamera: Les temps sont durs, les tensions durant – Die Zeiten sind hart, die Spannungen dauern an.
Die Wut der Franzosen scheint unerschöpflich zu sein. Besonders die Generation der über Fünfzigjährigen sieht sich betrogen. Sie hat ein Leben lang gearbeitet, um jetzt festzustellen, dass ein gesichertes Alter so unerreichbar ist, wie der Mond. Eine Frage wird immer wieder gestellt: Was haben die Politiker mit dem Geld gemacht, das wir erarbeitet haben? In den nationalen Nachrichten wird über die Demonstrationen außerhalb von Paris kaum berichtet, obwohl diese mächtiger sind, als in der Hauptstadt. Die Verachtung für die Politiker hat einen historischen Hochpunkt erreicht. Von Vertrauen kann keine Rede mehr sein, im Gegenteil. Man glaubt ihnen kein Wort mehr. Der Aufmarsch von Uniformierten zeigt, dass sich die Politik bedroht fühlt.
Wer sind diejenigen, die während der Demonstrationen gewalttätig werden? Alle Agent Provocateurs, ist sich Jean-Claude sicher und der Wachmann vor dem Capitol ist seiner Meinung. Die Gelbwesten sollen diskreditiert werden, damit man sich nicht um ihre Forderungen kümmern muss. Für die kommenden Europawahlen wird eine gigantische Wahlenthaltung erwartet. Nicht, dass das die „glühenden Europäer“ stören dürfte, die haben nur Angst, dass die Leute falsch wählen und den etablierten Parteien Sitze verloren gehen.
Um 13:00 Uhr stellt sich heraus, dass unser Bus nicht kommt. Der Shuttle zum Flughafen ist bereits eingestellt. Nur die U-Bahn fährt noch. Von der Station Arrés soll es noch eine Tram zum Flugplatz geben. Zum Glück haben wir einen französischen Schweizer in der Gruppe, der die Führung übernehmen kann. In Frankreich findet man immer noch kaum Leute, die des Englischen mächtig sind. Englische Hinweise, wie sie bei uns mittlerweile Standard sind, sucht man hier vergeblich. Am Flugplatz angekommen, sehen wir in der Abflughalle als Erstes eine Formation bewaffneter Soldaten mit vorgehaltenen Gewehren, die Patrouille laufen.
Erst nach den Sicherheitskontrollen, die viel stärker sind, als üblich, sieht alles wieder normal aus.
Wie die Demonstrationen in Toulouse verlaufen sind, werden wir erst zu Hause in den Medien erfahren, oder auch nicht.
Klar ist, Frankreich befindet sich im permanenten Ausnahmezustand – ein Ende ist nicht abzusehen.
Stärkung vor dem Kampf
Toulouse im Ausnahmezustand
Vorbereitungsmaßnahmen