Die Wolfskinder von Litauen

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Den Begriff Wolfskinder gibt es seit über zweitausend Jahren. Die legendären Gründer von Rom, Romulus und Remus wurden laut Sage von einer Wölfin großgezogen. Seitdem werden Kinder, die ausgesetzt wurden oder in Kriegen ihre Eltern verloren haben und sich allein durchschlagen müssen, Wolfskinder genannt.

Als die Rote Armee im Oktober 1944 die ostpreußische Grenze überschritten hatte, begann eine der größten Fluchtwellen der europäischen Geschichte. Zweieinhalb Millionen Menschen versuchten, sich vor den vorrückenden sowjetischen Truppen in Sicherheit zu bringen. Da die Nazis erst die Flucht in der letzten Minute erlaubten, wer ohne Erlaubnis ging, wurde mit dem Tod bedroht, geriet das Ganze zum Chaos. Viele Trecks wurden von der Roten Armee überholt. Die Menschen, die umkehrten, fanden ihre Häuser zerstört oder besetzt vor. Sie mussten in Kellern, Ställen oder Ruinen Zuflucht suchen. In diesen Wirren wurden viele Kinder aus dem Königsberger Gebiet von ihren Müttern getrennt. Oder sie mussten miterleben, dass ihre Mütter zu Tode vergewaltigt wurden. Es gab tausende elternlose Kinder in den ersten Jahren nach dem Krieg.

Nach Ende des Krieges begannen die Sowjets, diese Kinder einzufangen und in Kinderheimen unterzubringen. Die Kapazitäten reichten aber nicht für alle aus. So blieben immer noch hunderte Kinder obdachlos, die versuchten, sich mit Betteln und Stehlen am Leben zu halten. Unter diesen Kindern verbreitete sich die Kunde, dass es in Litauen Brot in Hülle und Fülle gäbe. Also machten sich viele von ihnen auf in das Land, das keinen Hunger kennt.

In Litauen hatten die Kinder wirklich bessere Überlebenschancen. Viele kamen bei Bauern als Hütejungen unter. Allerdings musste das heimlich geschehen. Deutsche Kinder zu beherbergen, war verboten. Einige der hilfreichen Bauern mussten dafür in den Gulag.

Deshalb besuchten die meisten Kinder nie eine Schule. Wenn es gelungen war, ihnen eine litauische Identität zu verschaffen, konnten sie sich als Erwachsene ein eigenes Leben aufbauen, meist aber nur als landwirtschaftliche Hilfskräfte.

 

Nach Gründung der DDR versuchten die Behörden, die in Litauen befindlichen deutschen Kinder aufzuspüren und in die DDR zu holen. Aber viele versteckten sich, weil sie befürchteten, nach Sibirien transportiert zu werden. So kam es, dass hunderte deutsche Kinder in Litauen blieben. Sie vergaßen ihre Muttersprache, mussten ihre ostpreußische Herkunft verleugnen, fühlten sich nie als Litauer, sondern als Fremdlinge.

Erst mit der Unabhängigkeit Litauens gab es für sie die Möglichkeit, sich auf ihre Identität zu besinnen. Sie nahmen untereinander Kontakt auf, gründeten einen Verein und begannen, über ihre Vergangenheit zu reden.

In Deutschland ist das Schicksal der Wolfskinder fast unbekannt. Das Wenige, was man weiß, ist einem Mann zu verdanken, der ein Beispiel dafür ist, dass es immer die Entschlossenheit von Einzelnen ist, die Änderungen bewirkt.

Prof. Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten bereiste Anfang der Neunziger Jahre als Bundestagsabgeordneter Litauen, wo er im Herbst 1992 die Wolfskinder kennenlernte. Viele von ihnen hatten zu diesem Zeitpunkt bereits die litauische Staatsbürgerschaft angenommen und damit die deutsche verloren.

Von Stetten half vielen bei der Wiedererlangung der deutschen Staatsbürgerschaft und bei der Übersiedlung nach Deutschland. Er organisierte aber auch Hilfe für die in Litauen verbleibenden Wolfskinder, die überwiegend sehr arm waren, denn als lebenslange Hilfskräfte leben sie von einer sehr schmalen Rente. Er sammelte Spenden, die eine regelmäßige Unterstützung der Wolfskinder ermöglichen.

Inzwischen gibt es einige Bücher über die Wolfskinder. Das Standardwerk wurde von Sonya Winterberg geschrieben: „Wir sind die Wolfskinder“. Bereits in diesem Buch finden sich Fotografien der in den Niederlanden lebenden Fotografin Claudia Heinemann. Das Schicksal dieser Menschen ließ die Fotografin nicht los. Sie hat jetzt ein eigenes Buch veröffentlicht: Wolfskinder- A Post-War Story. Sie hat über Jahre Fotografien gemacht, die besser als viele Worte zeigen, was für ein Leben diese Kinder führen mussten. Wie beschreibt man die Gefühle einer Zwölfjährigen, die bereits ihre Eltern verloren hat, von ihrer Nachbarin in einer fremden Stadt ausgesetzt wird und nicht weiß, wo sie die Nacht verbringen soll? Sie findet schließlich eine Hundehütte, in der sie unterkriecht. Heinemann fotografiert keine leere Hundehütte, sondern einen dichten Wald in der Dämmerung, dessen Anblick das Gefühl auslöst, sofort irgendwo Zuflucht suchen zu müssen.

Entstanden ist ein einmaliges Buch. Die wunderbaren Bilder von Heinemann werden kontrastiert von den wenigen Familienfotos, die es von den Wolfskindern gibt, einigen Dokumenten und den Porträts der Menschen, deren Schicksal in einem kurzen Bericht beschrieben wird. Die Texte von Sonya Winterberg sind sachlich, ohne jedes Pathos. Sie gehen gerade deshalb unter die Haut. Fotos, Text und Dokumente verschmelzen zu einer Einheit, die tief berührt. Ich würde gern jedem Antifanten der brüllt: „Deutsche Täter sind keine Opfer“ dieses Buch als Pflichtlektüre verordnen. Diese Menschen waren keine Täter, sie zahlen die Kriegsschuld der Nazis noch heute, während viele Täter in Ost und West schon bald nach dem Krieg wieder in verantwortliche Positionen kamen uns sich erneut als geistige Zuchtmeister ihrer Mitbürger aufspielten.

Heinemann zeigt in ihrem Buch, dass die einzig richtige Antwort auf Krieg und Gewalt ist, das Schicksal derer in den Focus zu nehmen, die von den Machern bedenkenlos für ihre Ziele geopfert werden.

Wer ihre Bilder gesehen hat, ist tief berührt. Ein Perspektivwechsel hilft, die Welt neu zu sehen und verborgene Räume zu öffnen. Erst wenn alle Winkel ausgeleuchtet sind, können wir Hoffnung haben, Krieg und Gewalt dauerhaft zu überwinden.



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