Von Gastautor Bernd Weikl
In der bayerischen Verfassung in Artikel 131,1-3 wird gefordert: „Bildung soll […] auch Herz und Charakter erreichen und die Ehrfurcht vor der Würde des Menschen […]” Im Freistaat Sachsen wird es in Absatz 2.3 inhaltlich ebenso formuliert: „[…] Die musische, kulturelle Bildung ist ganzheitlich und hat daher erheblichen Einfluss auf das soziale Verhalten, auf die soziale Kompetenz, auf die Entwicklung demokratischer Haltungen und Strukturen.“
Zur Bildung von Herz und Charakter
Darüber äußert sich bereits Friedrich Schiller in seinen Schriften zur >Ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts<. Er schreibt 1802: „Die Schaubühne ist mehr als jede andere öffentliche Anstalt des Staates eine Schule der praktischen Weisheit, ein Wegweiser durch das bürgerliche Leben, ein Schlüssel zu den geheimsten Zugängen der menschlichen Seele.” Und in >Die Braut von Messina oder Die feindlichen Brüder, über den Gebrauch des Chores< hat sich Schiller erneut dazu geäußert: „[…] Alle Kunst ist der Freude gewidmet, und es gibt keine höhere und keine ernsthaftere Aufgabe, als die Menschen zu beglücken. Die rechte Kunst ist nur diese, welche den höchsten Genuss verschafft.“ Man bedenke: So modern äußerte sich Schiller schon damals und wird heute durch wissenschaftliche Ergebnisse bestätigt.
Musiklernen. Pädagogische Auswirkungen neurobiologischer Grundlagenforschung. In: Scheidegger, Josef / Eiholzer, Hubert (Hrsg.): Persönlichkeitsentfaltung durch Musikerziehung. Aarau, 1997 S. 97–109.
Miller, B. (2001): Gehirn, Sitz der Persönlichkeit, In: Spiegel online, 09. Mai 2001.
Altenmüller, Eckart (2002): Musik im Kopf; in Gehirn & Geist, Nr. 1, S. 18-25
Das erwünschte freudige Erlebnis durch Kunstgenuss führt also nachweislich zur Ausschüttung von Glückshormonen in unseren „Grauen Zellen“. Es unterstützt bei Rezipienten die im staatlichen Bildungsauftrag deutlich beschriebene und daher unbedingt geforderte Persönlichkeitsentwicklung.
Die Freiheit der Kunst nach Art. 5.3. GG versus Bildungsauftrag
Ein Beispiel dafür ist Albrecht Puhlmann (Intendant der Opernhäuser Hannover und Stuttgart): „[… ] man muss bewusst so pointiert formulieren, um deutlich zu sehen, dass immer neue Schocks und ungeahnte Experimente zur weitgehenden Entfremdung eines genussorientierten und aufbaubedürftigen Publikums führen; [ …] (denn) wenn man die Oper als exterritoriales Gebiet betrachtet, wo man sich wohlfühlt und das wiedererkennt, was man schon vor Jahren gesehen hat, dann würde dies das Ende der Oper bedeuten.“
Ganz ähnlich argumentiert Peter Konwitschny angesprochen auf seine Regie zu Don Giovanni: „Ich habe etwas gegen diese Opernpathetik und mag es auch, diesem konservativen Publikum etwas ins Gesicht zu schleudern […] Es ist nicht unsere Aufgabe, die Stücke so zu inszenieren, wie es sich die Autoren vorgestellt haben […]“. Und er fügt verallgemeinernd hinzu: „Wer die Bühne missbraucht, um dort für viel Geld schöne, perfekte Töne zu singen, ist asozial. Ich verstehe da keinen Spaß.“
Ein Präzedenzfall an künstlerischer Freiheit ist die Produktion Tannhäuser an der Deutschen Oper am Rhein am 04. Mai 2013. Es wird von widerlichen Szenen berichtet, die das Publikum schockierten. Nackte Darsteller in gläsernen Würfeln werden dort „vergast“. In der ersten Szene, dem sogenannten Venusberg, wird eine jüdische Familie, unter ihnen Tannhäuser, von Nazis ermordet. Dabei fließt viel Blut, überall sind Hakenkreuze und SS-Uniformen präsent.
Ich habe die Leitung des Opernhauses und das Regieteam angezeigt. Am 24. November 2014 und 17. Februar 2015 hieß es im Antwortschreiben der Düsseldorfer Staatsanwaltschaft und des Generalstaatsanwalts: „Kunst ist einer staatlichen Stil- oder Niveaukontrolle nicht zugänglich; die Anstößigkeit einer Darstellung nimmt ihr nicht die Eigenschaft als Kunstwerk (zu vgl. BVerfG, Beschluss vom 07. März 1990, I BvR 266|86, I BvR 913187, zitiert nach juris).“
Das staatlich hoch subventionierte Schauspiel
Jan Küveler berichtet am 09. April 2016 in der WELT: „Am Münchner Residenztheater inszenierte Frank Castorf Die Abenteuer des guten Soldaten Svejk von Frank Jaroslav Hasek. Wir lesen zur Aufführung: „[…] Bibiana Beglau […] kippt Cola in einen Kanarienvogelkäfig und ruft : Ficki ficki ficki. Papa, Mama, Dutidutzi. Alle sind doof. Angela ist doof […] Es geht um Sex mit Tieren. Der Mensch ist schlecht? […] Blut und Sperma […] Eine ausufernde Romanvorlage, möglichst aus der Feder von Verrückten, Säufern, Antisemiten (oder auch von verrückten saufenden Antisemiten)?“
Und wie denkt der Regisseur Frank Castorf selbst darüber? „Ich spucke auf alles, was mich umgibt, das habe ich in der DDR gelernt, und ich werde es auch nicht mehr ändern!“, formuliert er als Berliner Kunstpreisträger 2016 sein Credo und setzt hinzu: „Ich kann im Theater machen, was ich will. Mir gefällt nicht, dass sich das Theater unserer Tage immer mehr nach Zuschauern, Kritikern, Kulturpolitikern richtet.“ Und in der Süddeutschen Zeitung (eine ganze Seite) vom 30. April / 1. Mai 2016 äußerte sich Castorf erneut: „ […] Mich interessiert kein Bürgermeister und Kulturstaatssekretär (…) Ich habe immer gemacht, was mir gefällt […] Mich interessiert unsere Gesellschaft heute überhaupt nicht […].“
Killerspiel für Kinder, Video- und Printmedien
2012 wurde das Killerspiel CRYSIS 2 in Berlin mit 50.000,– Euro prämiert und zum Computerspiel des Jahres gekürt. Die Jury bescheinigte den Entwicklern „hohen Spielspaß“, der damalige Kulturstaatsminister Bernd Neumann hielt die Laudatio.
„Die heutigen Video- und Printmedien berichten täglich und keineswegs nur nachts vor kleinem Publikum, sondern bei höchsten Einschaltquoten über brutale Handlungen. Ob das 21. Jahrhundert dabei noch Rücksicht auf unsere Jugend nimmt“, verneint die Psychologin, Therapeutin und Autorin Gabriele Baring. Und weiter sagt sie: „Wenn Kinder täglich Gewalt, Morde und Vergewaltigungen im TV und Internet sehen und sich das auch noch in Computerspielen stundenlang ,reinziehen‘, dann prägt sie das. […] sie sehen dann Gewalt als Lösung ihrer Probleme.“
Wissenschaftliche Studien bestätigen schon lange Gabriele Barings Aussagen. Sie legen eine deutliche Verbindung zwischen Sehen und Handeln nahe. Eine regelmäßige Beobachtung von Gewalt kann zu einer psychischen Abstumpfung, einer Betäubung gegenüber dieser Gewalt führen.
Jürgen Flimm von der Staatsoper Berlin und der sichtbare Paradigmenwechsel
Der Intendant der Staatsoper Berlin, Jürgen Flimm, schrieb 2016 im Vorwort des Journals Staatsoper: „Buhmann und Buhfrau, (so nennt er das Publikum) und da öffnet sich der Vorhang – o Graus – dann wispert Buhmann seiner Helga ins Ohr: Nabucco in der Tiefgarage, Figaro auf Sohle Sieben, Otello im Weltraum, Maria Stuarda im Großraumbüro, Medea gar als Selbstschussanlage an der Zonengrenze […]Buhmann und Buhfrau trichtern die Hände und schürzen die Lippen, röhren das bibliophile Programmheft. Ja, die tönende Mehrheit hat die Ochsenstimme erhoben, und röhrt und blökt und muht […] rasch steigt der Pegel, der sich bald zu infernalischem Protest dunkler Klangwolken ballt […] und in einer Woche ist Cosí fan tutte – Die Lippen geschürzt! Kehlen geölt! Es soll in einem Eiscafé spielen! Unter lauter Schwulen! Zu Weihnachten! Mit einem lebenden Schaf – Nichts wie hin!!!“ Das „Nichts wie hin“ zeigt die Freude am grausamen hässlichen Erlebnis – den Paradigmenwechsel.
Die Dekadenz im antiken Rom und unser status quo
Pierre Grimal berichtet in seiner Römischen Kulturgeschichte – seltsamerweise, wie es scheint, zugleich über heutige Bühnenproduktionen: „[…] Die Blüte des Theaters seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. war nicht von Dauer. Zweifellos gab es noch bis zum Ende der Republik Tragödien- und Komödiendichter, doch wurden die Aufführungen mehr und mehr mit nebensächlichen Zutaten überladen und entfernten sich allmählich vom Text […] Nicht selten nahm im Höhepunkt der dargestellten Katastrophe ein zum Tode Verurteilter den Platz des Schauspielers ein. Der mythische König Pentheus zum Beispiel wurde vor den Augen der Zuschauer von den Bacchantinnen in Stücke gerissen; die angezündeten Mauern Trojas wurden zu einer echten Feuersbrunst; Herkules verbrannte wirklich auf seinem Scheiterhaufen – gerade dass Pasiphae nicht noch in der Kuh eingeschlossen war, die man einem Stier darbot, der auf der Bühne freigelassen wurde. Diese Auswüchse lassen sich nicht aus einer besonderen Grausamkeit oder Perversität des römischen Volkes erklären. Apuleius erzählt, dass in Korinth die Veranstalter der Spiele die bewundernswürdige Klugheit des Esels, der zum Helden seines Romans geworden war, dazu benützen wollten, um das Tier dazu zu bringen, sich öffentlich im Theater mit einer wegen Giftmordes und verschiedener scheußlicher Vergehen verurteilten Frau zu vereinigen. Die Verbrecherin sollte, bevor sie von den Tieren zerrissen wurde, vor aller Augen von einem Esel vergewaltigt werden.“
Quellen:
Weikl, Bernd (2016): Kunst- und Pressefreiheit in Deutschland. Erweiterte Ausgabe. Leipziger Universitätsverlag
Weikl, Bernd (2017): Singen in der Oper, als Therapie und in der Post- und Postpostmoderne. Leipziger Universitätsverlg