In den Ländern des Heimatkrieges: Vukovar

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Die Fahrt von Belgrad nach Vukovar  mussten wir zwei Stunden früher als geplant starten. Unserem bosnischen Bus war es nicht gestattet, die serbisch-kroatische Grenze direkt zu überqueren. Wir mussten einen Umweg über Bosnien, genauer gesagt, die „Republik Srbska“ machen, ein autonomes Gebilde in Bosnien, Überbleibsel aus dem Bürgerkrieg. Ein serbischer General,Ratko Mladić, der die hiesigen Kämpfe kommandiert hatte, rühmte sich nach seinem Sieg, dass es erstmals gelungen wäre, einen serbischen Staat auf nichtserbischem Gebiet zu errichten. Die Gegend sieht wohlhabend aus. Fast nur neue Häuser. Wenn noch ein paar alte Gebäude zu sehen sind, weisen sie zahlreiche Einschusslöcher in ihren Fassaden auf. Besonders viele Häuser, die ehemals von Donauschwaben errichtet wurden, erkennbar an ihren geschwungenen Giebeln, haben überlebt. Sie waren nach der Vertreibung der Donauschwaben von den Serben in Besitz genommen worden.

Die Grenzübertritte waren für uns zeitaufwendig. Am Kontrollpunkt des Übergangs zur „Republik Srbska“ mussten wir warten, bis der Kontrolleur  begriff, dass er von uns kein Geld erhalten würde. An der blauen, von der EU errichteten Grenze zu Kroatien, fuhr vor unseren Augen ein VW vor, der Fahrer hievte einen Sack aus dem Kofferraum, übergab ihn dem Grenzsoldaten und durfte weiter fahren, ohne kontrolliert zu werden.

Vukovar ist ein malerisches Städtchen an der Donau, die an dieser Stelle die Grenze zu Serbien bildet. Wir fahren an frisch renovierten Prachtbauten vorbei, wie das Schloss Eltz, einer der schönsten Barockbauten Kroatiens, das heute ein Museum beherbergt. Dazwischen stehen noch stark beschädigte Häuser, mit pockennarbigen Fassaden, Löchern vom Artilleriebeschuss in den Dächern, Bombentrichter in den Gärten. Vukovar war nach 90-tägiger Belagerung zu 90% zerstört. Wenn man heute durch die Stadt geht, steht an vielen Fassaden ein Hinweis, welche Stadt oder welches Land dieses Haus wieder aufgebaut hat. Man gewinnt den Eindruck, dass zwischen der rekonstruierten Pracht absichtlich einige Häuser „vergessen“ wurden, als eindrückliche Erinnerung an den Bürgerkrieg, der hier auch „Befreiungskrieg“ genannt wird.

Als erstes besuchten wir das Krankenhaus von Vukovar, das während der Belagerung durch die Serben unter ständigem Beschuss Verwundete aufgenommen, operiert und notversorgt hat, bis sie in Behelfslazaretts gebracht wurden. Im Krankenhaus konnten nur die Schwerstverwundeten bleiben. Heute erinnert ein Museum an die Tage im Herbst 1991, als täglich bis zu 80 Geschosse das Gebäude trafen und 20 bis 80 Verwundete, hauptsächlich Zivilisten, aufgenommen und versorgt werden mussten. Der Nebeneingang war mit Balken und Sandsäcken geschützt, dahinter befand sich der Operationsraum, der heute noch im Originalzustand zu sehen ist. Das Hospital war 1857 gegründet und 1976 durch einen Neubau ergänzt worden. Dem damaligen Zeitgeist entsprechend war der Neubau mit einem Atombunker ausgestattet, samt allem Zubehör.Ein unterirdischer Gang verband die beiden Gebäude. Während der Belagerung wurden Gang und Bunker als Krankenstationen eingerichtet. An einer Stelle ist in der Decke ein Loch zu sehen, gerissen von einer 250kg Bombe, die alle fünf Stockwerke durchschlagen hatte und zwischen den Beinen eines Patienten im Flur landete, der überlebte, weil die Bombe keinen Zünder hatte.

Das Krankenhauspersonal war während der Belagerung stark reduziert. Am Beginn hatten die meisten serbischen Ärzte und Pflegekräfte Vukovar verlassen und waren zu den Belagerern übergelaufen. Als Teile von Vukovar bereits von den Serben erobert worden waren, konnten keine Verwundeten mehr in Behelfslazarette gebracht werden. Die Überfüllung wurde unerträglich. Unter diesen Bedingungen sind auch 15 Kinder zur Welt gekommen, nur eins, ein Früchten, starb, weil der Inkubator nicht permanent mit Strom versorgt werden konnte.

Nachrichten von der Außenwelt bekamen Personal und Patienten von einer lokalen Radiostation, die während der Belagerung die Welt über die Zustände in der bedrängten Stadt informierte.

Die Stimme des Moderators ist in einem Gang des Bunkers zu hören. Er wurde am Tag der Eroberung Vukovars durch die Serben mit hunderten anderen Zivilisten zu einer nahe gelegenen Schweinefarm gebracht und dort erschossen.

Ebenfalls erschossen wurden drei junge Männer, die von einem französischen Fernsehteam am 20.November 1991, dem Tag der Einnahme des Krankenhauses durch die Serben, interviewt wurden. Das internationale Rote Kreuz stand bereits vor der Tür und wurde am Eintritt gehindert, weil die serbischen Militärs noch 400 Verwundete und Zivilisten in Busse verluden und abtransportierten. Von ihnen wurden 200 nahe einer Schweinefarm erst verprügelt, dann erschossen. Darunter eine im sechsten Monat schwangere Frau, Gattin eines bekannten kroatischen Politikers. Dabei war der bereits erwähnte Ratko Mladić.

Die Gedenkstätte des Krankenhauses ist voll in den täglichen Klinikbetrieb integriert. Der Verbindungsgang zwischen dem alten und dem neuen Teil wird nach wie vor genutzt. Er sieht noch aus, wie in den Neunzigen, nur zweihundert der weißen Fließen sind ersetzt durch schwarz umrandete Kacheln mit den Namen der Ermordeten. Diese kluge Entscheidung, keinen abgeschlossenen Gedenkort zu machen, erinnert daran, dass es sich um Geschehnisse handelt, die sich in unserer Lebenszeit abgespielt haben. Wir saßen 1991 vor den Fernsehern und sahen Bilder vom Beschuss der Stadt. Damals war Europa total überrascht. Der Westen kannte Jugoslawien als wunderschönes, billiges Urlaubsland, der Osten als eigenwilliges sozialistisches Experiment, das von Moskau als so gefährlich eingestuft wurde, dass es nahezu unmöglich war, Jugoslawien zu besuchen. Nur für die vertrauenswürdigesten Genossen gab es ein kleines Kontingent von Reisen des staatlichen Reisebüros.

Wie kam es zu diesem Krieg?

Um das zu erfahren, besuchten wir die Gedenkstätte für den Heimatkrieg in Vukovar, die sich auf dem Gelände einer Kaserne befindet. Von hier aus hat die jugoslawische Volksarmee, die hier nur noch aus Serben bestand, die Stadt belagert.

Es führt uns ein ehemaliger Agraringenieur, der 1991 zum Kämpfer wurde und beim Militär blieb.

Vukovar stand am Anfang der serbischen Bemühungen, aus Jugoslawien ein Großserbien zu machen. In den Dörfern um Vukovar hatten hauptsächlich Donauschwaben gewohnt. Nach deren Vertreibung wurden in die leeren Häuser Serben angesiedelt. Von diesen serbischen Dörfern ging im Frühjahr 1991 die Aggression aus.

Geschichtswissenschaftler sprechen von einer „angekündigten Aggression“. Es handelte sich also nicht um einen „Ausbruch“ jahrhundertealter ethnischer Konflikte, die nur vom Tito- Regime unter dem Deckel gehalten wurden, sondern um eine bewusste Initiierung von Gewalt , die große Teile der Bevölkerung unvorbereitet traf. Auf Parteiversammlungen der Kommunisten wurde offen von dem bevorstehenden Konflikt gesprochen, die lokalen Parteiführer verteilten Waffen an die Genossen und andere parteitreue Serben. Die Waffen stammten aus den lokalen Arsenalen der jugoslawischen Volksarmee. Gleichzeitig wurden Listen mit Namen von Muslimen angelegt, die als erste zu beseitigen wären.Es wurden Vorbereitungen für neue Führungsstrukturen getroffen. All das fand bereits sechs bis acht Monate vor Kriegsbeginn statt.

Vukovar, eine kleine Stadt, spielte in den strategischen Überlegungen der Serben zunächst keine Rolle. Es war geplant, sie einfach zu überrollen und links liegen zu lassen.

Als hier der Kriegsanlass produziert wurde, rechnete kein serbischer Stratege mit ernsthaftem Widerstand.

Es begann damit, dass mehrere kroatische Polizisten aus dem Hinterhalt heraus von serbischen Paramilitärs massakriert wurden. Das war im April 1991.Nach diesem „Startschuss“ formierten sich sehr schnell die beiden Seiten. Wer die Serben unterstützen wollte, verließ die Stadt, die Bleibenden bewaffneten sich und richteten sich auf die Verteidigung ein.

In der Ausstellung sind Fotos, sowohl von den serbischen Tschetniks, als auch von den kroatischen Freiwilligen zu sehen. Sie unterscheiden sich nur durch die Fahnen voneinander. Es sind dieselben verwegenen Gesichter, die zu jeder Brutalität entschlossene Haltung.

Unser Führer war damals Leutnant. Er beteuert heute, er und sein Trupp hätten sich nur verteidigt. Aber auf die Frage, ob er heute nach Serbien oder Bosnien fahren würde, verneint er energisch. Seine Einheit sei sehr bekannt gewesen, er wüste nicht, ob er auf irgendwelchen Listen stünde. Auf was für Listen, würde man da gern fragen, Listen der Kriegsverbrecher?

Er persönlich hasste niemanden, sagt der heutige Major. Auf das aktuelle Zusammenleben in Vukovar angesprochen, antwortet er, dass es nach wie vor schwierig sei, aber besser werde. Zum Beispiel hätten die Serben auf getrennte Schulen bestanden. Die gibt es noch, aber immer mehr serbische Kinder kämen in kroatische Schulen. Dass die Serben, obwohl gesetzlich gleichberechtigt, immer noch nicht ihre Sprache und ihr Alphabet offiziell benutzen dürfen, sagt er nicht. Wobei man an dieser Stelle anmerken muss, dass der Unterschied zwischen Kroatisch, Serbisch und Bosnisch eher ein politischer, weniger ein semantischer ist.

Ein Schlaglicht auf den schwierigen Alltag wirft, dass den Kindern beigebracht werden muss, wie man Minen erkennt. Die  kleinste Antipersonenmine heißt „Pasa“, Törtchen. Man kommt meist mit dem Verlust eines Fußes davon. Am teuflischsten ist eine Tretmine mit dem neckischen Namen „Schmetterling“, die bei Auslösung 60 cm in die Höhe springt und dann explodiert. Relativ ungefährlich für Menschen sind Panzerminen, selbst wenn man drauftritt.

Überall im ehemaligen Kampfgebiet können noch unentdeckte Minen sein, die auch fast zwanzig Jahre nach Beendigung der Kämpfe die Gesundheit und Leben von Menschen bedrohen.

Unsere letzte Station an diesem Tag war die ehemalige Schweinefarm in der Nähe von Vukovar, die im November 1991 zur Hinrichtungsstätte mutierte. In der Nähe wurde der Erschießungsgraben entdeckt, der zum Massengrab wurde. Hier wurde auch die Schwangere erschossen. Von allen aus dem Krankenhaus weggebrachten Menschen weiß man von über hundert noch nicht, was mit ihnen geschehen ist.

Heute ist die Betonscheune ein stylisches Denkmal, mit im Fußboden einbetonierten Patronenhülsen, künstlichem Sternenhimmel, abwechselnd beleuchteten Fotos der Ermordeten, einer „Todesspirale“ in der Mitte, in der die mit Leuchtschrift projizierten Namen verschwinden. Das war mir zu viel. So wird Erinnerung zur Obsession. Das würdig als Gedenkort hergerichtete Massengrab in der Nähe hätte genügt.

Auf dem Rückweg kamen wir am zerschossenen Wasserturm vorbei, der zum Symbol des Widerstands der Vukovar wurde. Die neunzig Tage, in denen die Serben die Stadt belagern mussten, ehe sie bezwungen werden konnte, verschafften Restkroatien Luft, um die Verteidigung des Landes zu organisieren.

Wenn man heute als Gast durch das abendliche Vukovar schlendert und die schönen Spazierwege an der Donau oder dem Kanal genießt, bekommt man nicht mit, in welchem Minenfeld man sich bewegt. An der Oberfläche wirkt alles normal und entspannt. Unsere serbischen und bosnischen Begleiter aber verbergen lieber, woher sie kommen, um unangenehme Situationen zu vermeiden.

Bein unserem Gespräch mit dem Präsidenten der Dachverbände der serbischen Vereine der Familien von vermissten, ermordeten und getöteten Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien bekommen wir das zu spüren. Als der Kellner merkte, dass unser Gast aus Belgrad angereist war, ist es mit seiner professionellen Freundlichkeit vorbei.Wir müssen so lange auf unsere Getränke warten, dass die Veranstaltung verspätet begann.

Unser Referent ist der Meinung, dass die vergangenen Verbrechen der Sprit für zukünftige Kriege sein sollen. „Hier will jemand, dass der Krieg nicht aufhört.“ Wer dieser jemand ist, das sagt er nicht, er macht nur klar, dass dieser Wunsch nicht von der Bevölkerung  ausgeht. So wie die Gewaltbereitschaft zu Beginn des Krieges geschürt wurde, so wird der Hass zwischen den Volksgruppen lebendig gehalten. Ein Hass, der eine Art Schimäre ist, denn von den Einzelnen wird er nicht gespürt. Als Kollektivgefühl vergiftet er dennoch die Atmosphäre.

Ich werde das beklemmende Gefühl nicht los, dass unsere Reise in die Vergangenheit des Bürgerkrieges im ehemaligen Jugoslawien eine Zeitreise in die Zukunft Europas ist.



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