Wenn Gott Geschichte macht! 1989 contra 1789

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Der friedliche Epochenumbruch 1989/90 hat nicht nur die Bevölkerung der westlichen Welt überrascht, sondern auch alle Experten, wie Politiker, Journalisten, Wissenschaftler und Philosophen, nicht nur, aber besonders in Deutschland. Hier brach nicht nur die zweite deutsche Diktatur, die von etlichen Linken als das bessere Deutschland angesehen worden war, zusammen. Durch den unwiderstehlichen Volkswillen kam es zur Aufhebung der deutschen Teilung, die als die gerechte Strafe für nationalsozialistische Untaten angesehen wurde, von den Machthabern der DDR und jenen Linken, die im demokratischen Teil Deutschlands saßen und nicht unter dem sozialistischen Staat zu leiden hatten.

Von diesen Linken ging schon ab Beginn der 90er Jahre die Uminterpretation des großartigen Freiheitsereignisses aus. Maßgeblich hervorgetan hat sich dabei Jürgen Habermas, der in mehreren Interviews und Aufsätzen von der Friedlichen Revolution als einem „regressiven Prozess“ sprach, um den sich „keine historisch bleibenden Erinnerungen kristallisieren“ werden.

Tatsächlich wurde viel getan und noch mehr unterlassen, um die Erinnerung an die Friedliche Revolution zu schwächen. In den Schulen steht sie, wenn überhaupt unter ferner liefen auf dem Lehrplan. Auch in der veröffentlichten Meinung wird ausgerechnet die „ethisch qualifizierteste Revolution (Ulrich Schacht) ausgesprochen stiefmütterlich behandelt. Das zeigte sich zuletzt in der Entscheidung des Deutschen Bundestages, das „Einheits- und Freiheitsdenkmal“ nicht mehr zu finanzieren.

Diesem Trend der Geschichtsvergessenheit etwas entgegenzusetzen, hatte sich die Evangelische Bruderschaft St Georgs- Orden mit ihrer Tagung zum 20. Jahrestag der Friedlichen und dem 220. Jahrestag der Französischen Revolution zum Ziel gesetzt. Im kürzlich erschienen Band  “Wenn Gott Geschichte macht! 1989 contra 1789“ sind Beiträge von sieben Referenten dieser Tagung versammelt. Anders als andere Tagungspublikationen ist ein spannendes, zeitloses Werk entstanden, das immer wieder in die Hand genommen und gelesen werden sollte.

Es geht um den „heilsgeschichtlichen Antwortcharakter der Friedlichen Revolution von 1989 auf die blutige von 1789 und ihren gewaltsamen Folgeumbrüchen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Russland (1917) und Deutschland (1933).“

Alle, die das letzte Datum zusammenzucken lässt, werden von den Autoren daran erinnert, dass sich nicht nur Lenin mit seiner Partei neuen Typus als Machtinstrument für den Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus positiv auf den jakobinischen Terror bezog. Auch der Präsident des nationalsozialistischen Volksgerichtshofes Roland Freisler erinnerte bei seiner Begründung für die Notwendigkeit dieses Terrorinstruments an das französische Revolutionstribunal, das nur Freispruch oder Todesurteil kannte.

Von der Französischen Revolution ging eben nicht nur ein Freiheitsimpuls aus, sondern auch eine Akzeptanz von Gewalt zur Erreichung politischer Ziele. Diese Gewaltaffinität hat das westliche Denken entscheidend geprägt. Selbst friedensbewegte Theologinnen wie Dorothee Sölle konnten sich Hass, der ja Quelle der Gewalt ist, als „potentiell kreativ denken“.

Man muss sich das vor Augen führen, um zu verstehen, warum manche westliche Denker in der Friedlichen Revolution sogar eine Konterrevolution sehen wollten, weil die Revolutionäre von 1989/90 nicht daran dachten, blutige Rache an ihren Unterdrückern zu üben. Sie setzten sich mit ihnen sogar an Runde Tische, um den Übergang von der Diktatur zur Demokratie friedlich zu gestalten. Dieses geschichtsprägende Phänomen wird von den Autoren des Buches aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet. Wie ein roter Faden zieht sich durch alle Beiträge die Frage, welche Rolle Gott in dieser Revolution, die alle Kriterien einer klassischen Revolution über den Haufen geworfen hat, spielt. Kann man sie gar als moralischen Gottesbeweis ansehen? Die Antworten darauf fallen unterschiedlich aus. Eines ist jedoch sicher: die radikale Abwendung von der Kultur der Gewalt, die in der Französischen Revolution ihren Ursprung hat, führte zu einer neuen Ehrfurcht vor dem Leben. Das ist die Auflösung eines geschichtlichen Paradoxons: Als der Mensch in den Mittelpunkt der Welt gestellt wurde, brach die Zeit der zahllosen Menschenopfer für eine humanere Zukunft an. Sobald diese absolutistische Weltsicht abgelöst wurde zugunsten unideologischer, pragmatischer Freiheitsziele, wurde das menschliche Leben wieder so kostbar, dass es nicht geopfert werden durfte.

Der berühmte Marxsche Spruch, die Philosophen hätten die Welt nur interpretiert, es käme darauf an, sie zu verändern, wurde 1989 auf den Kopf gestellt. Die Welt wurde grundlegend verändert. Die Philosophen haben nun die Aufgabe, diese veränderte Welt zu interpretieren.

Das besprochene Buch ist dafür ein guter Anfang.



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