Von Gastautor Uwe Kreißig
Die Aufregung um die Äußerungen von Uwe Tellkamp in der Unterredung mit seinem Kollegen Durs Grünbein ist herbeigeredet. Nichts, aber rein gar nichts Neues wurde am 8. März in der Diskussion über Meinungsfreiheit im Dresdner Kulturpalast geäußert. Zwei Intellektuelle und gleichermaßen erfolgreiche Schriftsteller, beide mit Dresdner Hintergrund, gaben für eine Stunde den politischen Sekundanten. Tellkamp sprach vermutlich für die Mehrheit der Deutschen, Grünbein steht auf der Seite der Bundeskanzlerin, wobei man bei Angela Merkel nie weiß, ob heute noch das gilt, was sie gestern für 110-prozentig als richtig befunden hat. Aber diese Polit-Taktik, die Stalin erfunden hatte, lernte sie im real existierenden Sozialismus. Man kann sie endlos anwenden, solange man an der Macht ist.
Sonst ist an diesem Abend nichts passiert. Uwe Tellkamp, der seitdem in der Mehrzahl der deutschsprachigen Medien für seine direkten Worte kritisiert wird, machte nur von seinem verfassungsmäßig verbrieften Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch. Er hat viel mit Zitaten gearbeitet, die genau so gefallen waren und für sich sprechen. Nicht mehr und nicht weniger. Dies sollte in einem freien Land möglich sein, ohne dass man sogleich durchs Feuilleton gehetzt wird, weil die linke Schickeria meint, dass Tellkamp zum wiederholten Male von der offiziellen, also der richtigen Linie abgewichen sei. Es gibt, um mit Walter Janka zu sprechen, offenbar wieder mal Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Er hat nicht gehört, also muss er jetzt fühlen. Was kommt als nächstes, muss man dann schon fragen. Janka, Chef des berühmten Aufbau-Verlags, wurde damals von Ulbricht in den Knast geschickt.
In erster Linie wirft man Tellkamp vor, dass er behauptete, dass 95 Prozent der Migranten aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland kommen. Mit dieser Zahl könnte er richtig liegen. Auch Anerkennungsquoten beim Asyl sagen überhaupt nichts Gegenteiliges aus. Da es zum allgemeinen Schlepperbriefing des Kunden, also des zahlenden Flüchtlings, gehört, passende Geschichten im Asylverfahren zu präsentieren und weil es überhaupt keine strafrechtlichen Folgen hat, wenn man in diesem Verfahren lügt, wird diese Möglichkeit genutzt. Dies kann man niemanden verdenken, man würde es in vergleichbarer Situation ähnlich handhaben. Nein, man findet in den gleichen Medien, in denen Tellkamp als Pegida-Anhänger und verkapptes AfD-Mitglied angegriffen wird, mit Leichtigkeit Artikel, deren Autoren nahelegen, dass selbst an dieser, vermutlich aus der Luft gegriffenen Zahl etwas dran sein könnte.
So war auf taz.de am 15.11.17 zu lesen, dass keiner der syrischen Flüchtlinge aus einem Kriegsgebiet kam. Sie alle befanden sich auf sicherem Terrain, häufig in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien, freilich unter unbequemen Lebensumständen. Sie nutzten die Möglichkeit, nach Deutschland zu kommen, nachdem sich gezeigt hatte, dass trotz oder gerade wegen “Schengen” die illegale Einreise nach Deutschland leicht ist, bestärkt durch Angela Merkels “offizielle Grenzöffnung” für alle.
Die ZEIT-Redaktion lieferte vor Tagen nach und kritisierte die Beschöniger der Motive für eine illegale Einwanderung aus aller Welt: “Noch weniger wollen sie zur Kenntnis nehmen, dass der deutsche Sozialstaat, sein Kindergeld, sein Hartz IV, seine Asylbewerberleistungen auch für die eine gigantische Attraktion darstellt, die keine Aussicht auf Bleiberecht haben”, schrieb Mariam Lau am 7. März diesen Jahres auf zeit.de.
Warum reisen 95 Prozent der Flüchtlinge und Migranten am Ende nach Deutschland, Österreich, Dänemark, in die Schweiz oder nach Schweden? Weil es dort die höchsten Geldleistungen und besten Zusatzleistungen, darunter eine Krankenversorgung auf Maximalniveau sowie kostenlosen Rechtsschutz, auf dem ganzen Planeten gibt. So einfach ist das, und deshalb kann man die Wahl der Migranten für Deutschland absolut nachvollziehen, denn an der deutschen Kultur, die es nach Aydan Özoguz nicht gibt, dem blöden deutschen Volk, das bald den Abgang machen wird, und den deutschen Kartoffeln wird es wohl nicht liegen. Dänemark ist als Gastgeber schon ausgefallen, Österreich wird folgen, Schweden vermutlich auch. Was dann? Und warum sollte man sich nach Bosnien, Polen oder auch Italien aufmachen, wo es für illegale Migranten und Asylbewerber praktisch nichts gibt? Nur weil Tellkamp einen sehr hohen Wert für den Anteil der Wirtschafts- und Sozialmigration nennt, muss er noch lange nicht falsch liegen.
Und genau da liegt das Problem. Wenn ein stadtbekannter Spinner oder ein offenkundiger Neonazi so argumentieren würde, wäre es allen egal. Aber wenn ein anerkannter Großschriftsteller plötzlich unerwünschte Fakten und Meinungen öffentlich ausspricht – die vor ihm inzwischen längst Dutzende Politiker aus den Regierungsparteien in verklausulierter Form geäußert haben – herrscht Alarmstufe rot. Denn von Künstlern erwartet man im Westen seit 1945, dass sie auf der Seite des linken Establishments stehen.
Bei Politikern ist das wiederum egal: Sie handeln nach Parole, die oben ausgegeben wird, oder nach den eigenen Interessen. Man erinnere sich an Angela Merkels “Reuerede” die sie nach der dritten, für die CDU nacheinander verloren gegangenen Landtagswahl, am 19. September 2016 in Berlin hielt. Damals stand sie vor dem Sturz durch ihre Parteifreunde, und man sah ihr die Angst an. In einer wenige Tage alten SPIEGEL-Umfrage war ihr zudem bescheinigt worden, dass 82 Prozent der Deutschen ihre Flüchtlingspolitik ganz oder teilweise ablehnen. Schnell gab sie ein paar Versprechungen ab, den Migrantenstrom einzuschränken und so über die nächsten Runden zu kommen, um dann im Grunde so weiterzumachen wie bisher. Zum Glück gewann dann Annegret Kamp-Karrenbauer die anschließende Wahl im Saarland, und Merkel war wieder gerettet. Das hat sie ihr nicht vergessen.
In der Süddeutschen Zeitung vom 13. März legte Grünbein auf unverschämte Weise gegen Tellkamp und die blöden Ostdeutschen noch einmal nach. Die Ossis, die sich jetzt über die Einwanderung in die Sozialsystem beklagten, seien ja selbst in die Sozialsysteme des Westens eingewandert. Nichts ist falscher als das. Erstens handelt es sich um Umlagesysteme, in die seit 1990 alle Ostdeutschen einzahlen. Zum zweiten darf der Kapitalstock der Treuhand, dessen Wert der erste Treuhand-Chef Rohwedder mit 600 Mrd. DM taxierte und der praktisch vollständig unter Westunternehmen oder Einzelpersonen aus dem Westen, sowie an den Bund verteilt wurde, als die Anschubfinanzierung der Ostdeutschen für die westdeutsche Sozialversicherung verstanden werden. Zum Dank wurde die Mehrheit der Ossis durch die Treuhandpolitik beruflich um mehrere Stufen degradiert oder gleich gefeuert.
Wirtschaftsmigranten gibt es übrigens, so zynisch das klingen mag, auf jedem Level und in allen Schattierungen. Jedes Jahr suchen sich zig-tausende Deutsche einen Job im Ausland oder wandern gleich aus, weil sie sich in einem anderen Land ein besseres Leben versprechen – mit mehr Geld, weniger Arbeit und schönerem Wetter. Wie realistisch das ist, steht auf einem anderen Blatt.
Von den nach 1961 in den Westen ausgereisten DDR-Bürgern waren vielleicht fünf Prozent politisch verfolgt – wenn es hochkommt. Über eine Million Ostdeutsche wechselten aus wirtschaftlichen Motiven und vielleicht auch für die Reisefreiheit das Land, die Meinungsfreiheit spielte vermutlich nur bei einer kleineren Gruppe die entscheidende Rolle. Die Animation war leicht: Jeden Tag sah man in den Schön-Wetter-Serien und Filmchen auf ARD und ZDF, was im Westen so kinderleicht zu haben war. Obwohl praktisch jeder DDR-Bürger ein normales Leben führen konnte – freilich unter den ideologischen Einschränkungen einer “Diktatur des Proletariats” – und keineswegs arm war, reichten die glänzenden Motive des hochentwickelten ´Konsumkapitalismus’ aus, sich im Westen im Schnellwaschgang noch einmal neu zu erfinden. Aber sie integrierten sich sofort, stellten Gesetze und Gewohnheiten nicht in Frage und sorgten durch Arbeit selbst für ihren Lebensunterhalt. Auch nach oben ist die Begrenzung für die Migration offen: Wenn ich heute ein Ferienhaus in Zingst habe, was nicht schlecht ist, mir aber morgen auch ein Leben in einer Villa auf Cap Ferrat leisten kann, dann gehe ich eben an die Côte de’ Azur. Nach unten ist die Begrenzung ebenso endlos.
Aufschlussreich erscheint im Übrigen auch die Darstellung in einigen Medien, dass Tellkamp bei einigen seiner Äußerungen vom Publikum im Kulturpalast “Protest vom Publikum erfahren” habe, während Grünbein wiederum für seine Wortmeldungen Beifall eingeheimst habe. Da waren die Berichterstatter offensichtlich an einem anderen Ort. Bei Grünbeins Äußerungen, die so belanglos wie einschläfernd waren, gab es praktisch überhaupt keine Reaktionen aus dem Auditorium. Tellkamp bekam dagegen mehrfach spontanen, ungesteuerten Beifall. Kein Wunder im pegidaversifften Dresden, werden seine Kritiker sagen. In diesem Zusammenhang möchte ich betonen, dass ich nie ein Tellkamp-Fan war. Seinen Bestseller “Der Turm” darf man getrost für überbewertet halten. Durch seine langatmige Stilistik wie die umständliche Sprache ist er über weite Strecken unleserlich. Und wie tot ist eigentlich ein zehn Jahre alter Bestseller? Ob viele Käufer das 1000-Seiten-Epos tatsächlich zu Ende gelesen oder letztlich lieber auf die clevere wie verkürzende Fernsehverfilmung von Christian Schwochow zurückgegriffen haben, ist Spekulation. Aber ich bewundere Tellkamps Mut, die Karten so offen auf den Tisch zu legen, dass der öffentliche Ärger für ihn geradezu vorprogrammiert war. Er wird nichts davon haben.
Grotesk ist die Nach-Argumentation von Grünbein, der den Auftritt seines Gegners zunächst knapp kommentierte: “Was wir von Tellkamp zu hören bekamen, ist uns seit Jahren von den Teilnehmern an den Pegida-Demonstrationen bekannt.” Dazu gehörten “Islamophobie, Furcht vor dem Anderen, Verschwörungsfantasien, diffuse Sozialängste”. Nicht wenige der Forderungen und Kritikpunkte von Pegida sind längst in den Regierungsparteien angekommen, ebenso in kleineren Teilen der Linken sowie den Grünen.
Erst vor Tagen konnten wir das, natürlich verhüllt in Worthülsen, von Manuela Schwesig, Boris Palmer und Cem Özdemir lesen. Letzterer forderte faktisch einen neuen Polizeistaat, der dazu dienen soll, die Kriminalität in den Griff zu kriegen, um das Vertrauen der Bürger zurückzugewinnen. Der Bürger fragt sich trotzdem, warum die innere Sicherheit seit dem Sommer 2015 den Bach runtergegangen ist. Wegen Pegida? Wegen Verschwörungsphantasien? Wegen Islamophobie?
Geradezu bizarr erscheint Grünbeins Argument, dass sein Kollege “diffuse Sozialängste” schüre. Vermutlich denkt Tellkamp dabei weniger an sich selbst, vielleicht aber an die deutsche Unterschicht, die nicht wie Durs Grünbein mit Familie in Rom residieren kann. Sie können auch nicht ihr Kind auf eine Privatschule schicken, wenn die Willkommensklassen die Sicherheit an der staatlichen Schule zerlegen, sie können in München, Hamburg, Frankfurt oder Stuttgart auch nicht das Stadtviertel oder das Wohnhaus wechseln, wenn dort die Verhältnisse durch neue Nachbarn kippen, deren eigene Ansichten für Vielfalt nun der Maßstab für alle sind.
Grünbein, in seiner gesamten Karriere mit Stipendien und Preisen überhäuft (man gönnt sie ihm wie jeden Dichter), deren finanzielles Moment praktisch immer direkt oder indirekt aus Steuermitteln stammt, lacht aus seiner privilegierten Ecke über die Deutschen ganz unten, die zum Mindestlohn oder im Hartz-IV-Modus mit der Realität klarkommen müssen, die über sie verhängt wurde. Bereits vorher hatte Grünbein in einem Interview seine Ahnungslosigkeit von der Wirklichkeit kundgetan: Das Geld für die Kosten der Migration würde niemandem weggenommen, die gut 30 Milliarden Euro pro Jahr seien, sinngemäß, einfach da. Das klingt in etwa so, wenn Jens Spahn den Bürgern im unteren Drittel erklären würde, dass er es gar nicht verstehen könne, wie Geld „alle“ sein kann. Denn dann müsse man ja nur zum Geldautomaten laufen, um neues zu holen. Grünbein ist der Prototyp des deutschen Salon-Intellektuellen, der seit 100 Jahren in Mode ist: wortgewandt, großspurig und ohne jeden Kontakt zur Realität der Menschen, die ein einfaches Leben führen.
Aus hermeneutischer Betrachtungsweise wiederum witzig ist Grünbeins Kritik an Suhrkamp, der seinen Autor Tellkamp öffentlich für seine Dresdner Äußerung maßregelt und eine Distanzierung verkündet hatte. Der Suhrkamp-Autor Grünbein klassifiziert seinen Verlag als “linksliberalen Spießerverein”, der nun Tellkamps “Vorurteil von der Gesinnungsdiktatur nur bestätigt habe”. Den Gag erkennt Grünbein offenbar nicht, denn durch Suhrkamps Empörung wie durch die hundertfachen Medienschelten an Tellkamp ist es de facto bewiesen, dass es kein Vorurteil ist. Dennoch darf man fragen, was denn Durs Grünbein bisher für die Flüchtlinge in Deutschland getan hat. Hat er Flüchtlinge in sein Familiendomizil in Rom aufgenommen, seine Dresdner Wohnung für Flüchtlinge zur Verfügung gestellt, Großspenden für Integrationsprojekte getätigt? Nein, ein Dichter kann das nicht, der muss ja in Ruhe schreiben. Das sollen bitte die anderen im Land übernehmen. So hat sich das Angela Merkel damals sicher auch vorgestellt, als sie allein im Kanzleramt saß und dann nach anderthalb Telefonaten die Grenzöffnung verkündete. Vielleicht wird Grünbein dafür seinen nächsten Lyrikband allen Flüchtlingen widmen. Das wäre mehr wert als Gold für sie, denn diese Widmung bliebe für immer.
Bei Suhrkamp, wo man mit Tellkamps “Turm” Millionen verdiente, hat man den Dresdner offenbar abgeschrieben, anders lässt sich diese dümmliche Twitter-Distanzierung nicht erklären, die zum geschäftlichen Bruch führen könnte. Vermutlich traut man Tellkamp einen zweiten Erfolg der Turm-Größenordnung nicht mehr zu, denn zu den Grundzügen opportunistischer Verlagspolitik zählt bekanntermaßen, dass Qualität nicht die entscheidende Rolle für Veröffentlichungen spielt, sondern Umsätze und sichere Gewinne. Da die Backlist seit der Aufschaltung von Amazon Marketplace praktisch wertlos geworden ist, kann man sich diesen Spaß der Autorenvergraulung als cooles Instrument der Marketingkommunikation wenige Tage vor der Eröffnung der Leipziger Buchmesse offenbar leisten. Dass ein Verlag wie Suhrkamp, wo sich tief im Kellerarchiv vermutlich Hunderte Manuskripte mit linksextremen Inhalt befinden, die nur im demokratischen Kapitalismus für alle Beteiligten ungefährdet erscheinen konnten, der Welt nun aufzeigt, was man von Meinungsfreiheit hält, ist der eigentliche Nach-Skandal des Abends.
Ich erinnere mich an einen kurzen New-York-Aufenthalt im November 2002. Damals plante Präsident Bush jr. in der Folge der Terroranschläge von Al Qaida einige, eher moderate Einschränkungen in der Meinungsfreiheit, die in den USA traditionell einen anderen Stellenwert hat als in Europa. So konnte ein erzkonservativer Autor in einem Buch über Bill Clinton ungestraft behaupten, dass die gemeinsame Tochter Chelsea die Folge einer Vergewaltigung sei. Es war eben seine Meinung. Ob man diese Form von Meinungsfreiheit braucht, steht auf einem anderen Blatt. Jedenfalls las ich in der New York Post, die bei einem Italiener in der Nähe des Madison Square Garden, wo es billige, aber gute Pizza gab, auf den Diner-Tischen auslag, dass am nächsten Abend eine Spendenveranstaltung für ein Projekt zur Bewahrung aller Rechte der Meinungsfreiheit in irgendeinem Club in SoHo stattfinden sollte. 30 Dollar Eintritt als Spende. Es wurde mit Stars geworben wie Cynthia Nixon, die zu dieser Zeit mit “Sex in the City” alle Rekorde für Fernsehserien brach, die die Gäste unterhalten sollten. Für “Highroller” war ein Platz am Tisch von Lou Reed zu haben. Kostenpunkt: 150 Dollar, für heutige Verhältnisse lächerlich. Ich traute mich nicht, weil ich mir meines Englisch’ nicht so sicher war. Später habe ich gelacht, weil dafür der Platz an Lou-Reeds-Tisch genau der richtige gewesen wäre. Aber was ich damit sagen will: Für die New Yorker Starkünstler war die Bewahrung der Meinungsfreiheit in all ihren Facetten, auch den komischen, schmutzigen, idiotischen oder kranken, so wichtig, dass sie die Sache sehr ernst nahmen. Sogar ein Obergrinch wie Lou Reed war für eine solche Veranstaltung zu haben. Sie betrachteten die Meinungsfreiheit als erste Grundlage für ihr künstlerisches Schaffen. In Deutschland dagegen, so haben einige Künstler entschieden, sollen offenbar Ideologie und Verkündung von oben diesen Platz einnehmen.
Die demokratische Abstimmung über die tiefgreifende Ursache zu all diesen Diskussionen steht weiter aus: Diese Entscheidung hat damals Angela Merkel ohne Not in klassischer Manier eines Autokraten übernommen. Über Wochen, über Monate wäre im Jahr 2015 Zeit gewesen, den Bundestag und den Bundesrat, weil ja massiv in die Etathoheit der Länder und Kommunen eingegriffen wird, einzuberufen und eine Abstimmung über die „offizielle Grenzöffnung” für Flüchtlinge durchzuführen. Eine Mehrheit wäre ihr seinerzeit spielend sicher gewesen, doch sie entschied sich für die solistische Lösung. Warum? Niemand kennt die Antwort. Diese Abstimmung über die Migrations-, Flüchtlings- und Asylpolitik, deren Merkelsche Grundzüge von 2015 de facto weiter bestehen, steht aus und wäre eine Probe für die neue Regierung. Doch an dieser Abstimmung würde die “GroKo” sofort zerbrechen, zumal man seit heute weiß, dass diese Koalition gerade eine Mehrheit von neun Stimmen hat. Noch. Deshalb wird es mit Angela Merkel weder ein praktikables Einwanderungsgesetz, noch eine realistische Anpassung der deutschen Asylregelungen an internationale Gepflogenheiten geben.
Als wäre nichts gewesen, verkündet Angela Merkel wenige Stunden nach ihrer Wiederwahl als Bundeskanzlerin in der ARD, dass sie die AfD “kleiner machen und möglichst aus dem Bundestag wieder” herausbekommen will. Ausgerechnet sie, die mit ihrer fatalen und unendlichen Politik der Euro- und Griechenland-Rettung die AfD erst begründet und diese in der Folge mit ihrer Flüchtlingspolitik schließlich in die Parlamente der Bundesrepublik geholt hat. Das ist Realsatire, wenn es nicht so schaurig wäre. Da kommt einem der Klassiker von Lawrence Durrell wieder in den Sinn: “Unter Politik verstehen manche Leute die Kunst, Brände zu löschen, die sie selber gelegt haben.”
Zuerst erschienen auf www.reconnaissance.de