Gedanken zu Mark Lillas „Der hemmungslose Geist“
Zweihundert Jahre nach der Französischen Revolution wurde die von ihr begonnene Gewaltgeschichte, die im vergangenen Jahrhundert einen grausamen Höhepunkt erlebte, durch eine Friedliche Revolution im kleineren Teil Deutschlands und in Osteuropa beendet. Kaum jemals in der Geschichte hat es eine solche Dynamik gegeben, die von gänzlich unorganisierten Volksmassen ausging. Für mehr als ein Jahr wurde die Geschichte nicht von Politikern, Parteien oder Denkern gemacht, sondern von den Menschen bestimmt, die ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen hatten und ihre Vorstellungen durchsetzten.
Es war eine Revolution, die alle bislang geltenden „wissenschaftlichen Kriterien“ über den Haufen warf: Keine gut organisierte Minderheit eroberte die Macht und verteidigte sie blutig gegen die Mehrheit. Keine Kaderpartei, keine geistigen Führer, kein Konzept zur totalen Umwandlung der Gesellschaft. Dafür Gewaltlosigkeit als Mittel, der historisch gewachsenen Gewaltspirale zu entkommen.
Als einer der ersten hat Jürgen Habermas, der Chefphilosoph der Linken, die Gefahr für die Deutungshoheit der westlichen Meisterdenker erkannt. Er begann umgehend mit der Uminterpretation der Friedlichen Revolution als „regressivern Prozess“ und meinte befürchten zu müssen „dass sich um diesen emphatischen Anfang keine historisch bleibenden Erinnerungen kristallisieren werden“. Die Friedliche Revolution hätte zwar eine „Wende“ gebracht, die hätte sich aber nicht „in jenem Bewusstsein vollzogen, das mit der Französischen Revolution auf den Plan getreten ist“. (1) Tatsächlich hat sich der größte Teil der Linken seither die größte Mühe gegeben die Friedliche Revolution klein zu machen und ihre geistigen Folgen zu ignorieren. Man könnte auch von gedanklicher Konterrevolution sprechen, die sich, je länger sie anhält, als materielle Gewalt immer zerstörerischer auf Demokratie und Rechtsstaat westlicher Prägung auswirkt.
Der amerikanische Ideenhistoriker Marc Lilla hat in seinem Buch „Der hemmungslose Geist“ untersucht, warum westliche Intellektuelle bereit waren, Diktatoren aller Couleur zu unterstützen, von Hitler und Stalin über Mao bis hin zu den korrupten Despoten der dritten Welt. Statt dabei zu helfen, Menschen zu befähigen, ein Leben in Eigenverantwortung und Freiheit zu führen, problematische Entwicklungen zu erkennen und abzuwehren, haben europäische Philosophen des letzten Jahrhunderts totalitäre Ideologien, inhumane Regimes und mörderische Diktatoren verteidigt. Das setzt sich bis heute fort, denn kurz nach dem Scheitern des Kommunismus und seiner Ideologie hat sich eine neue politisch- theologische Ideologie global verbreitet: der Islamismus. Zwar wird er von den westlichen Intellektuellen nicht so angehimmelt, wie die totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts, aber doch relativiert, verharmlost, unterschätzt, obwohl sich täglich junge Menschen in der westlichen Welt aufmachen, um sich den Kräften des islamischen Staates anzuschließen, der mittlerweile Europa bedroht. Die anhaltende Thyrannophilie der westlichen Intellektuellen hat dazu geführt, dass sie nicht in der Lage zu sein scheinen, die Ideologie und die damit verbundenen Ziele der Islamisten zu begreifen. Sie verhindert, die akute Gefahr, der angeblichen „Flüchtlingskrise“, die in Wirklichkeit eine Krise der westlichen Demokratien ist, zu erkennen.
Wer die Geistesgeschichte Europas schreiben will, sagt Lilla, braucht einen starken Magen und viel Kraft bei der Überwindung seines Abscheus. Die Porträts der von ihm ausgewählten Philosophen geben einen Vorgeschmack davon. Ob Martin Heidegger, Carl Schmitt, Walter Benjamin, Alexandre Kojève, Michel Foucault oder Jaques Derrida: die rechten und linken Denker sind teils sehr eng miteinander verknüpft. Fast alle Linken beziehen sich auf Heidegger und Schmitt, deren Nähe zu den Nazis zwar im öffentlichen Diskurs gerügt wird, aber bei der Übernahme und Weiterentwicklung ihrer Gedanken keine Rolle spielt.
„Platon war der Erste, dem …auffiel, dass viele Intellektuelle der irrigen Vorstallung erliegen, eine gute Gesellschaft könne geschaffen werden, indem man einem Tyrannen dient, der die Macht hat, seinen Willen durchzusetzen. Diese Form der Philia …wurde- zuerst in Europa und schließlich im Rest der Welt- zu einer unerwartet mächtigen Kraft in der modernen Geschichte.“ (2)
Lilla beginnt mit einem Porträt von Martin Heidegger, dem alles überragenden Meisterdenker und offenem oder heimlichen Vorbild für Rechte wie Linke. So schrieb ihm Karl Jaspers 1931: „ Die Philosophie der deutschen Universitäten liegt aller Voraussicht nach in Ihren Händen.“ (3) Heidegger war gleicher Meinung. Er, der zeitweilig die Nazis aktiv unterstützte, Hitlers „wunderbare Hände“ bewunderte, beeinflusste andererseits Hannah Arend, die ihm ein „Denken ohne Geländer“ bescheinigte. Dieses Denken machte ihn einerseits zum Kritiker des westlichen Nihilismus, der Nationalsozialismus, Kommunismus, Demokratie und die Technik hervorgebracht habe, führte ihn andererseits dazu anzunehmen, dass die Nazis selbst die „die innere Wahrheit und Größe“ des Nationalsozialismus zerstört hätten, was in der absurden Bemerkung gipfelte, „er würde sich für seine Nazi- Vergangenheit nur entschuldigen, wenn Hitler wiederauferstehen und sich bei ihm entschuldigen würde.“(4)
Heidegger hat nie aufgehört, den modernen Menschen am Rande des Abgrunds zu sehen, denn der Mensch neige dazu, sich in der Welt zu verlieren und seine Sterblichkeit zu vergessen. Damit vergäße er auch die Sterblichkeit der Welt. Statt sich zu bewegen und sich den grundlegenden Fragen des Seins zu stellen, bewegte sich der Mensch in der Menge ( das Man), vertue sich mit Eitelkeiten, um den grundlegenden Fragen seiner Existenz und seiner Verantwortlichkeit zu entgehen. Der Mensch muss sich aber bewegen, sonst wird er von einer historischen Kraft getrieben, die stärker ist, als er selbst. Aus Heideggers Sicht, hat der gescheiterte Nationalsozialismus die Deutschen davon abgehalten, ihrem Schicksal zu begegnen. Geblieben sei die geistige Wüste der modernen Technik und der modernen Politik.
„Nur ein Gott kann uns jetzt noch retten“, äußerte er in den Sechzigerjahren in einem Spiegel- Interview. (5)
Das zweite Porträt zeigt eine weiteren Nazi- Kollaborateur: Carl Schmitt. Schmitt schaffte es zum Rechtsberater und „Kronjuristen“ Nazi- Deutschlands. Er verteidigte das Führerprinzip, den Rassismus, den Kampf gegen den „jüdischen Geist“, er lobte die „Nacht der langen Messer“, in der SA- Chef Röhm und viele seiner Gefolgsleute umgebracht wurden, als eine Maßnahme von „höchster Gerechtigkeit“. Nachdem er von konkurrierenden Nazis kaltgestellt worden war, versuchte er seinen Einfluss zurückzugewinnen, indem er eine Theorie des „Großraums“ entwickelte, die Hitlers imperiale Bestrebungen rechtfertigte. Das alles hinderte die westliche Nachkriegslinke nicht an ihrer „Schmitt- Verehrung“, die Lilla „eines der kuriosesten Phänomene der jüngsten Geistesgeschichte Europas“ bezeichnet. (6).
Schmitts Auffassung, dass alles politisch sei – Moral, Religion, Wirtschaft, Kunst hat sich flächendeckend durchgesetzt. Insofern hatte Ernst Jünger recht, wenn er Schmitts Aufsatz von 1927 „Der Begriff des Politischen“ als eine „Mine“ bezeichnete, „die langsam expolodiere“.(7) „Sage mir , wer dein Feind ist und ich sage Dir, wer du bist.“(8) , schrieb Schmitt in sein Glossarium, ohne zu ahnen, dass er damit die Situation in Merkel- Deutschland beschreibt, wo die Meinungsmacher eifrig dabei sind, Personen und Gruppen zu definieren, die „existentiell etwas anderes und Fremdes“ sind. Damit sind nicht die Einwanderer gemeint, sondern alle Kritiker der chaotischen Einwanderungspolitik, die mit jedem Tag rigoroser gebrandmarkt und aus den Reihen der „Anständigen“ ausgeschlossen werden.
Der Gegenspieler einer solchen Entwicklung sei der moderne Liberalismus, der den Staat als neutrale Institution betrachtet, der unter dem Diktum des Rechts, Kompromisse zwischen den verschiedenen Gruppen zu schaffen, um Konflikte zu befrieden. Schmitt bedauerte es, dass der Liberalismus die natürliche Feindschaft unter den Menschen überwinden könnte, dass die „gesunden Spannungen des politischen Lebens“ durch „privaten Konsum, Massenunterhaltung und permanente Diskussion“ aufgelöst würden.(9)
Der Kulturkritiker Walter Benjamin, der durch seine unglückliche Liebe zu einer lettischen Kommunistin zum Marxisten wurde, bekannte, dass seine theologischen und politischen Reflexionen stark von Carl Schmitt beeinflusst wurden. Einmal von der Vorstellung, „dass alle wichtigen Konzepte der modernen Staatstheorie letztlich säkularisierte theologische Konzepte seien; zum anderen Schmitts Idee, dass alle Gesetze implizit oder explizit auf der Entscheidung eines Souveräns beruhen, der entweder das Regelwerk auf das Handeln des Volkes anwendet, oder eine Ausnahme davon anordnet.“ Kanzlerin Merkel hat am 31. August 2015 mit ihrer Pressekonferenz, die ihre Politik der offenen Grenzen ankündigte, den berühmten Schmittschen Satz: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ bestätigt. (10)
Der Hegelianer Alexandre Kojève, der als Sprössling einer wohlhabenden Moskauer Familie in die Mühlen der Bolschewiki geriet und mit siebzehn Jahren nur knapp seiner Hinrichtung entkam, brachte das Kunststück fertig, das Sowjetgefängnis als überzeugter Kommunist zu verlassen. Diese Überzeugung verleitete ihn dazu, im Westen dem KGB als Spion zu dienen. (11) Seinen Studenten, dazu gehören fast alle namhaften französischen Philosophen der Nachkriegszeit, trichterte er ein, dass der menschliche Kampf um Anerkennung nach Hegel der Motor der Geschichte sei. Dieser Kampf spiele sich zwischen Individuen, Klassen und Nationen ab. Die letzten genuin weltgeschichtlichen Ereignisse seien die Französische Revolution und die Eroberungen Napoleons gewesen. Mit der Entwicklung des modernen Staates und seiner Wirtschaft hätte die Menschheit ihr Ziel erreicht: den „universalen, homogenen Staat“, mit gleichgestellten, zufriedenen Konsumenten. Alle Ereignisse der letzten zwei Jahrhunderte führten nach Kojève auf dieses Ereignis hin. Das ist gleichbedeutend mit dem Sieg der „Sklavenmoral“, wie Nietzsche es nannte. Kojève: „Im letzten Staat kann es keinen ‚Menschen’ mehr geben, im Sinne eines historischen Menschen. Der ‚gesunde Automat’ ist ‚zufriedengestellt’ (durch Sport, Kunst, Erotik etc.) und der ‚kranke’ wird weggesperrt.“ (12) Lilla diagnostiziert bei Kojève eine „tiefe Gleichgültigkeit gegenüber der potentiellen Dehumanisierung seiner Mitmenschen“ (13) und ist froh, dass Kojève nie in eine politische Funktion kam, die ihm genügend Macht gab. Wir müssen uns allerdings fragen, ob Kanzlerin Merkel nicht von einer ähnlichen tiefen Gleichgültigkeit gegenüber ihren Mitmenschen befallen ist, aber leider die Macht hat, sie auszuleben.
Michel Foucault, ein eifriger Student Kojéves, nahm Nietzsches Doktrin der Selbstschöpfung aus dem Willen heraus zu seiner Leitlinie. Es ging ihm vor allem darum, in eigener Person „Grenzerfahrungen“ zu suchen: in der Sexualität, , im Irrsinn, in Drogen, Sadomasochismus sogar im Selbstmord. Die Suche treibt ihn in die Psychiatrie, ins stalinistische Warschau, zu den Steine werfenden 68er Demonstranten und in die Schwulenszene von Kalifornien. Es gehörte zu den 68er Überzeugungen, dass eine neue, dezentralisierte Gesellschaft entstehen würde, von der Arbeiterklasse, aber auch von den „nichtproletarischen Massen“, wie Frauen, Gefangenen, Homosexuellen, Psychiatriepatienten. Das Resümee von Foucaults Grenzerfahrungen war die Überzeugung, dass der Mensch verschwinde, „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“. (14) Foucault war so selbstbezogen, dass er bedenkenlos als Aids- Kranker weiter ungeschützten Sex hatte, also von ähnlicher Gleichgültigkeit gegenüber seinen Mitmenschen war, wie Kojève.
Der letzte von Lilla Porträtierte, Jaques Derrida, hielt sich zwar von den Kommunisten fern und stand den 68er Ereignissen eher skeptisch gegenüber, entwickelt sein Konzept der „Dekonstruktion“ aber nach dem Vorbild Heideggers „Destruktion“ der metaphysischen Tradition, durch die allein alle Geißeln des modernen Lebens – Wissenschaft, Technik, Kapitalismus und Kommunismus- überwunden werden könnten. Derrida konzentrierte sich dabei auf die Sprache. Es sei eine radikale „Dezentrierung“ aller impliziten Hierarchien, die in der Sprache eingeschlossen seien, nötig. Alle Texte seien mehrdeutig, es seien keine eindeutigen Festlegungen möglich. Derrida wollte nicht weniger, als die gesamte philosophische Tradition infrage zu stellen. Das ist ihm gelungen. Derrida tat die Besorgnis , dass die Neutralisierung der Kommunikation eine Neutralisierung sämtlicher Beurteilungskriterien wäre, als kindisch ab. Andererseits überlegt er, ob es noch Sinn mache, von Demokratie zu sprechen, wenn das Reden über Länder, Nationen, Staaten oder Bürger am Ende sei. Er geht so weit zu sagen, dass die Loslösung vom westlichen Humanismus die Aufgabe der Vorstellungen über Menschenrechte, ja sogar die Idee von einem Verbrechen gegen die Menschheit aufgeben müsste. Nur ein Begriff könnte nicht dekonstruiert werden: Gerechtigkeit. „In meinen Augen ist diese Idee der Gerechtigkeit aufgrund ihres bejahenden Wesens irreduktibel…Man kann darin sogar einen Wahn erkennen…“. (15)
Dieser Wahn, der alle von Lilla porträtierten Philosophen eint, ist der Gedanke der radikalen Umgestaltung der Gesellschaft. Dass Gesellschaft etwas sozial Gewachsenes ist und sich ohnehin verändert, liegt ihrem Denken fern. Sie kommen auch nicht auf die Idee, dass ihr eigener moralischer Kompass dabei verloren geht. Das ist der anti-humanistische Impuls des reinen Willens, der Europa in der Vergangenheit in Katastrophen gestützt hat und es heute noch in Gefahr bringt.
Leider hat Lilla nicht die Schlussfolgerung gezogen, dass es heute nicht mehr um rechts und links, sondern nur noch um totalitär oder antitotalitär geht. Ein Porträt von Hannah Arend als Denkerin hätte ich mir als Kontrast gewünscht.
- Ulrich Schacht, Thomas Seidel ( Hrsg.) „…wenn Gott Geschichte macht“, Leipzig, 2015, S.16
- Marc Lilla „Der hemmungslose Geist“ München, 2015, S.9
- Ebenda S. 31
- Ebenda S. 39
- Ebenda S.39
- Ebenda S.60
- Ebenda S.61
- Ebenda S. 61
- Ebenda S.64
- Ebenda S. 94
- Net. 30.10.2011
- Lilla S.132
- Lilla S.133
- Lilla S. 143
- Lilla S. 175