Stärker als das Schicksal

Veröffentlicht am Kategorien Allgemein, Kultur

Unser Autor Hans Hofmann-Reinecke hat sich zur Abwechslung an einem biografischen Roman über seinen Freund Gerd Kalbhenn-Behrens versucht. Es entstand eine wirklich anregende Lektüre. Nichts ist so spannend und unwahrscheinlich wie das wirkliche Leben.

Schon äußerlich ist das Buch ein Augenschmaus, dank der Kopie eines farbenfrohen Ölgemäldes, das der Romanheld 2018 geschaffen hat. Im Vorwort sinniert Hofmann-Reinecke darüber, dass die meisten Menschen sich ihre Erfolge selbst zuschreiben, für ihre Niederlagen aber die „Umstände“ verantwortlich machen. Können die ungünstigsten Umstände überhaupt Menschen mit Erfolg hervorbringen? Eindeutig ja.

Gerd wurde im Alter von vier Jahren von seinem Vater aus den Trümmern eines Waisenhauses gegraben, unter denen an die hundert tote Kinder lagen. Die dicken Mauern des Hildesheimer Doms, der ebenfalls im März 1945 zerstört wurde, hatten die Ecke des Waisenhauses geschützt, in der Gerd lag. Der Vater brachte ihn in ein anderes Waisenhaus, wo er Hunger und Krankheiten ausgesetzt war. Seine Tante Else, die Schwester seiner Mutter, die bei ihrer vierten Geburt gestorben war, rettete ihn, indem sie Gerd mit auf ihren Hof nahm.

Dort wurde Gerd, inzwischen sieben Jahre alt, erst von seiner schlimmen Hautkrankheit kuriert, dann in die Schule geschickt. Im Dorf gab es nur einen Lehrer, der drei Klassen synchron unterrichtete. Jeder Klasse wurden 20 Minuten gewidmet.

Nach der Schule musste Gerd in der Landwirtschaft seines Onkels arbeiten. Trotzdem war die Zeit bei Tante Else die einzige behütete Epoche in Gerds gesamter Kindheit. Sein Vater brach in diese Idylle ein, weil er es als Katholik nicht ertragen konnte, dass sein Sohn in einem evangelischen Haus aufwuchs.

Die kommende Zeit war die Hölle. Sein wieder verheirateter Vater schlug ihn, der inzwischen Zwölfjährige lief immer wieder von zu Hause weg. Nur als Messdiener hatte er in der Kirche hinter dem Altar ein paar Minuten für sich allein, in denen er sich fragte, warum Gott ihn so hart strafte. Der Pfarrer wurde auf den anstelligen Jungen aufmerksam und unterstützte den Wunsch des Vaters nach einer kirchlichen Laufbahn. Gerd bekam zwei Stipendien und wurde auf das Priesterseminar in Meppen geschickt. Dort erlebte er erstmals eine Welt ohne Mangel. Er war gelehrig, fleißig und vor allem sportlich. Die theologischen Fächer dagegen lagen ihm weniger. Aus ihm würde kein Priester werden. Als im nächsten Semester das bislang kostenlose Studium mit einem geringen Betrag bezahlt werden musste, endete die Zeit in Meppen.

Nach Beendigung der Schule musste sich Gerd für einen Beruf entscheiden. Ihm standen nur zwei offen: Konditor oder Klempner. Zu keinem fühlte sich der Fünfzehnjährige hingezogen, verspürte aber gegen die Klempnerei eine heftige Abneigung. Also lernte er das Konditorhandwerk. Nebenbei bildete er sich selbstständig weiter, indem er jedes Buch las, das ihm in die Hände kam. Seine große Lesegeschwindigkeit und die Fähigkeit, das Gelesene zu analysieren, halfen ihm beim Aufbau eines enormen Allgemeinwissens.

Er bekam problemlos eine Anstellung in Deutschland, aber es hielt ihn nichts in diesem Land. Er wollte weg. Mit Hilfe eines Kaplans annoncierte er in katholischen Zeitungen, die überall in der Welt herausgegeben wurden, dass ein Konditor Arbeit suche. Er bekam Zuschriften aus drei Ländern, entschied sich dann für das, was am schnellsten reagierte: Chile. Nur hatte er kein Geld für eine Überfahrt. Wieder hatte er Glück: Er gewann das Ticket eines Programms der deutschen Regierung, das jungen Auswanderern das Reisegeld zur Verfügung stellte. Eintausend Tickets für hunderttausend Bewerber.

Allerdings musste er in Santiago feststellen, dass die Konditorei, die ihn anstellen wollte, pleitegemacht hatte.

Nun beginnt die eigentliche Erfolgsgeschichte. Wie im amerikanischen Traum vom Tellerwäscher zum Millionär arbeitete sich der mittellose Gerd zu einem erfolgreichen Unternehmer herauf, der deutsche Konditorkunst in Chile berühmt machte und zu einem angesehenen Mitglied der chilenischen Gesellschaft wurde. Nach einem Fehlschlag – seine erste Ehe endete im Rosenkrieg, weil er zu viel gearbeitet und darüber seine Familie vernachlässigt hatte – gründete er erfolgreich eine zweite Familie, wurde Rallyefahrer und Pilot. Er baute in Santiago und am Ozean Häuser, deren besondere Architektur seine Ideen widerspiegelt. Schließlich versöhnte er sich mit seinen Kindern aus erster Ehe. Sein Sohn ist Teil seines Unternehmens geworden.

Ein gelungenes Leben – trotz widrigster Umstände. Mit entsprechendem Willen, Tatkraft und etwas Glück kann man stärker als das Schicksal sein.

Hans Hofmann-Reinecke: „Stärker als das Schicksal“



Unabhängiger Journalismus ist zeitaufwendig

Dieser Blog ist ein Ein-Frau-Unternehmen. Wenn Sie meine Arbeit unterstützen wollen, nutzen Sie dazu meine Kontoverbindung oder PayPal:
Vera Lengsfeld
IBAN: DE55 3101 0833 3114 0722 20
Bic: SCFBDE33XXX

oder per PayPal:
Vera Lengsfeld unterstützen