Der Fall Gelbhaar – ein grünes Desaster

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von Philipp Lengsfeld

Der Fall Stefan Gelbhaar, Mitglied des Bundestages für Bündnis 90/Die Grünen Berlin seit 2017 und in der letzten Wahl in „seinem“ Wahlkreis Berlin-Pankow direkt gewählt, wirft ein Schlaglicht auf die hochtoxische Binnenatmosphäre deutscher Parteien – und zusätzlich auf die aggressive Doppelmoral bei den Grünen. Ich stelle diese Nominierungsschlacht als illustratives und warnendes Beispiel ausführlich dar.

Da die Nominierung nach momentaner deutscher Rechtslage und politischer Tradition eine hoheitliche Binnenaufgabe der Parteivereine ist (in den USA gibt es dagegen das System der Vorwahlen), laufen die Apparate vor den jeweiligen Nominierungen zu intriganter und intransparenter Höchstleistung auf – die Verteilung der begehrten Positionen folgt einem komplexen Ablauf von Mitgliedermehrheiten, politischen Netzwerken, Außen- und Innenwirkung und nur wenig nach Qualifikation und Vorerfahrung. Bei den Grünen wird dies noch durch die diversen Quoten- und Flügelausgleichsvorgaben verkompliziert.

In dieser Ausgangslage hatte der grüne Berliner MdB Stefan Gelbhaar, Jg. 76, Ost-Berliner, Jurist und zweifacher Familienvater, eigentlich ganz gute Karten – Gelbhaar war anerkannter Realo und Fachpolitiker (Verkehr), der mit zwei Wahlperioden im Deutschen Bundestag nach politischem Start als Kommunal- und Landespolitiker (Mitglied des Abgeordnetenhauses 2011–2017) an einem Punkt der Bilderbuchkarriere stand, wo ein Ruf nach Abbruch nicht nur persönlich, sondern auch politisch völlig unberechtigt gewesen wäre.

Obendrein erfüllte er als Mann aus dem Osten eine Doppelquote – in der siebenköpfigen Berliner Landesgruppe der Grünen sind fünf Frauen (darunter Ministerin Lisa Paus und Alt-Ministerin Renate Künast).

Der zweite Mann in der Landesgruppe ist Andreas Audretsch, MdB seit 2021, aus Stuttgart Zugereister aus einem linken Westberliner Kreisverband (Neukölln), der Bundeswahlkampfleiter des Teams Robert (Habeck). Ein Mann, der deutlich jünger ist als Gelbhaar (Jg. 84) und auf dessen Seiten nichts über Familie oder Partnerschaft zu finden ist. Auch Audretsch ist ein Karrierepolitiker, aber mit anderen Schwerpunkten: studierter Sozialwissenschaftler, Tätigkeiten im Bereich Medien und PR, insbesondere strategische PR, PR-Beamter in Ministerien – dort verbeamtet, was das verfassungsrechtlich verbriefte Rückkehrrecht nach einem Bundestagsmandat natürlich massiv veredelt.

Audretsch und Gelbhaar sind ganz offenbar politische und persönliche Kontrahenten – bei der Listenaufstellung wollte Audretsch seinem Landesgruppenkollegen Gelbhaar den Listenplatz 2 streitig machen.

Doch dazu kam es nicht. Unmittelbar vor der Listenaufstellung im Dezember – die Wahlkreisaufstellung in Pankow hatte Gelbhaar schon erfolgreich hinter sich – tauchten plötzlich Vorwürfe gegen ihn in der Partei und in der Öffentlichkeit auf. „Sexualisierte Gewalt“ lautete die Überschrift zu den Vorwürfen. Die kamen zwar im Detail nicht an die Öffentlichkeit, aber es handelt sich um etwas ganz anderes, als man bei der martialischen Wortwahl annimmt: Der härteste Vorwurf war wohl der angebliche Versuch eines Kusses nach einer Parteiveranstaltung. Weitere waren das angebliche Auflegen der Hand auf den Unterarm und ein angeblich zu langes Verweilen der Hand auf dem Rücken nach der – nicht nur in grünen Kreisen üblichen – Begrüßungs- oder Abschiedsumarmung.

Weitergehende Vorwürfe gab es wohl nicht; außerpartnerschaftliche sexuelle Handlungen irgendeiner Art wurden nach meinem Kenntnisstand nicht behauptet.

Trotzdem hatte die schiere Zahl der Anschuldigungen – es waren wohl in Summe nominell 10–12 Vorwürfe – initial Eindruck gemacht, wenn auch die Zahl durch Wiederaufkochen von Vorwürfen aufgemotzt wurde, die teilweise über zehn Jahre zurückreichten.

Allerdings war von Anfang an auffällig, dass die Vorwürfe in Teilen anonym und gegenüber der Partei – also nicht etwa aus dem Mitarbeiterumfeld des Abgeordneten und Funktionärs – erhoben wurden. Und vor allem, dass die vertraulichen Informationen umfänglich an den rbb, den Arbeitgeber  von Audretsch durchgestochen wurden, der auch prompt darüber berichtete.

Dies sind natürlich die klassischen Kennzeichen einer bewusst eingefädelten Intrige, einer sogenannten „character assassination“, also der Zerstörung eines Kontrahenten mittels mafiöser, vollkommen unlauterer Mittel.

Und so lief die Sache ab:

Hat Stefan Gelbhaar in der ersten Runde aus meiner Sicht noch falsch reagiert und unter Druck “freiwillig” auf seine Kandidatur für Listenplatz 2 der Berliner Landesliste verzichtet – der Platz ging dann natürlich direkt an Andreas Audretsch –, so fing er dann doch an zu kämpfen. Aber die Lawine war in Bewegung gesetzt worden und begrub ihn: Der Kreisvorstand der Grünen Pankow nahm sein formaljuristisch bestehendes Recht wahr und setzte eine neue Nominierungsveranstaltung im Wahlkreis an – mit MdA Julia Schneider fand sich auch eine Gegenkandidatin, und so passierte das Unverzeihliche: Stefan Gelbhaar wurde auch die längst errungene Direktkandidatur in Pankow wieder weggenommen. Seine Parteifreundin Schneider hat jetzt neben dem unerreichbaren Listenplatz 11 auf der Landesliste die gewinnbare Direktkandidatur in den Korb gelegt bekommen.

Die politische Karriere von Stefan Gelbhaar und die politische Arbeit von 25 Jahren in Partei und Stadt wurden mittels einer Anwurfskampagne brutal gestoppt. Der Kreis- und Landesverband der Grünen hat dabei aus meiner Sicht eine ganz ungute Rolle gespielt, insbesondere die Frauen, die bei den Grünen überall in der Mehrheit und der Verantwortung sind.

Stank der gesamte Vorgang schon zum Himmel, so gab es jetzt eine krasse, aber wichtige Wendung: Der rbb konnte eine Recherche des „Tagesspiegel“ nicht ignorieren. Er hat jetzt erklärt, dass einer der zentralen Vorwürfe (unterfüttert mit einer „eidesstattlichen Versicherung“ – ich vermute, es handelt sich um den ominösen „Kuss“-Vorwurf) sich in Luft aufgelöst hat. Stattdessen ergab sich der dringende Verdacht, dass eine grüne Bezirkspolitikerin diesen Vorwurf erfunden hat und die angeblich betroffene Frau nicht existiert.

Der rbb verteidigte sich damit, dass er der Eidesstattlichen Versicherung geglaubt habe. Möglich, dass heutige Journalisten nicht mehr wissen, dass Eidesstattliche Versicherungen, die nicht vor Gerichten, sondern vor Journalisten abgegeben werden, das Papier nicht wert sind, auf das sie geschrieben wurden. Und letztlich für nichts weiter gut sind, als für asymmetrische Kampagnen – also genau das, was letztlich passiert ist.

Stefan Gelbhaar hat die Vorwürfe von Anfang an vehement bestritten, ein politisch faires Verfahren wurde ihm von allen Ebenen verweigert.

Mittlerweile geht die Hauptstadtpresse einhellig von einer Intrige zu Lasten von Stefan Gelbhaar aus.

Eine Intrige, die mit ziemlicher Sicherheit einen Urheber, einen Drahtzieher und Mastermind hat. Und diese Person ist vermutlich nicht die in Rede stehende Bezirksverordnete, deren überhasteter Rücktritt von allen Positionen gerade Schlagzeilen macht.

Im Fokus steht MdB Andreas Audretsch, der Mann der nicht nur in politischer Konkurrenz zu Gelbhaar stand, sondern direkt und unmittelbar profitiert hat.

Damit ist die Affäre direkt auf der Bundesebene angekommen, denn MdB Audretsch ist der Bundeswahlkampfleiter der Kampagne Habeck.

Ist hier noch etwas zu retten?

Wenn MdA Julia Schneider ehrlich mit sich wäre, müsste sie dafür sorgen, dass ihre Kandidatur in Pankow unwirksam wird. Noch besser wäre, dass Gelbhaar bis Mo 18:00 wieder seine Kandidatenposition zurückbekommt.

Nur wenn sie das tun, könnten die Grünen  den Schaden begrenzen. Ansonsten werden die Wählerinnen und Wähler in Pankow ganz sicherlich ein Urteil fällen – auch kerngrüne Wählerinnen und Wähler werden dann sicherlich eher der SPD-Frau Alexandra Wend ihre Stimme geben.

Nina Stahr als Landesvorsitzende und Ko-MdB von Gelbhaar und Audretsch und der Kreisvorstand Pankow tragen natürlich die politische Verantwortung für den unsäglichen Prozess aus Durchstechereien und Verdachtsvorverurteilungen. Wir werden sehen, ob jemand zurücktritt – diese Verantwortungsübernahme ist ja gerade bei den grünen Frauen komplett aus der Mode gekommen, man erinnere sich an die Hartnäckigkeit der grünen Ex-Familienministerin Anne Spiegel nach der furchtbaren Ahrtalkatastrophe.

Wirklich interessant ist natürlich die Reaktion der Bundesspitze: Wird Andreas Audretsch von seiner Rolle als Wahlkampfmanager abberufen? Und verzichtet er auf den Listenplatz 2 in Berlin?

Wenn das nicht geschieht, dann gibt es einen weiteren Grund für etwas, was für die Leserinnen und Lesern dieses Blogs selbstverständlich sein dürfte: Die Grünen sind in dieser Form unwählbar.



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