Tage des Überlebens – Wie Margret Boveri Berlin 1945 erlebte

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Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze, sagt Friedrich Schiller, unser großer Freiheitsdichter. Den Politikern und Journalisten auch nicht. Sobald sie die Bühne verlassen, sind sie vergessen. Wer kennt heute noch Margret Boveri, die in der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus und danach eine bekannte Auslandskorrespondentin war, die für ihre Analysen und Berichte hohes Ansehen genoss? In den Jahren vor ihrem Tod war sie schon fast vergessen, als der Schriftsteller Uwe Johnson sich für ihr Leben zu interessieren begann. Er wollte herausfinden, warum Boveri in Nazideutschland Karriere gemacht hatte, obwohl sie ins Exil hätte gehen können. Dabei scheint Johnson nicht bereit gewesen zu sein, sich der Komplexität dieses Themas zu öffnen. Er verharrte mehr oder weniger in Ablehnung von Boveris Entscheidung. Nach der Nazi-Diktatur setzte sich die amerikanische Sichtweise, es hätte keinen nennenswerten Widerstand gegeben und die Deutschen seien ein „Tätervolk“ durch, sehr zur Erleichterung der Täter und vor allem ihrer Nachkommen. Wenn alle gleichermaßen schuld sind, verschwindet die individuelle Verantwortung der Täter. Die Verbrechen der SS und der Gestapo werden aufgelöst in der Kollektivschuld-These.

Wer Boveri liest, muss ihr zustimmen, dass unter der totalitären Oberfläche die Gesellschaft viel differenzierter war, als die heutige Geschichtsbetrachtung zugeben will. Das hat dazu geführt, dass weniger darüber nachgedacht wurde, wie anfängliche Unterstützer des Nazisystems seine Gegner werden konnten (Geschwister Scholl, die Verschwörer des 20. Juli 1944), noch, dass nicht längst alle Nazis waren, die Deutschland nicht verlassen hatten. Dieser undifferenzierte Blick, so Boveri, machte der geistigen Atmosphäre im Nachkriegsdeutschland zu schaffen. Ich kann ihr da nur zustimmen.

Wer ihr Buch über die Monate im Berlin des Endkampfes bis Jahresende 1945 liest, wird immer wieder überrascht. Wie lebte es sich unter dem Bombenhagel und später den erbitterten Straßenschlachten? Nach Boveri hat die Flächenbombardierung eher zur Stabilisierung des Nazisystems beigetragen und den Krieg durch den erbitterten Widerstand gegen die Alliierten verlängert. Im Keller rückte man zusammen, erzählte sich die Neuigkeiten, tauschte Erfahrungen aus und gab sich Tipps. Boveri stopfte ihre Strümpfe, wofür sie im Leben draußen, wo immer mehr Lebensnotwendiges aufwendig organisiert werden musste, keine Zeit fand. Immer öfter ging sie aber gar nicht in den Keller und blieb in ihrer Wohnung im vierten Stock. Das war zwar illegal, aber sie fühlte sich besser. Als die Straßenschlachten begannen, wurde die Lage für die Berliner noch unübersichtlicher. Zwar hatten die Bombardements aufgehört, dafür lagen sie nun unter Artilleriebeschuss. Wasser musste von zum Teil weit entfernten Pumpen geholt werden, die Heizung funktionierte nicht, gekocht wurde auf selbstgebauten Öfen. Boveri kam zugute, dass sie über beträchtliches handwerkliches Geschick verfügte und Fähigkeiten entwickelte, von denen sie vorher nicht gewusst hatte, dass sie diese besaß. Sie beschreibt die große Hilfsbereitschaft untereinander, egal, ob man sich kannte oder nicht. Harte Zeiten bringen das Beste im Menschen hervor, ist ihr Resümee. Bevor sich das alles zu idyllisch anhört, beschreibt sie auch das Wüten der fanatisierten Werwölfe oder SS-Schergen, die bis zum bitteren Ende „Verräter“ jagten und hinrichteten. Erstaunlich, wie viele Informationen noch in die Stadt drangen. So erfuhr Boveri davon, dass Marschall Schukow in der Schlacht bei den Seelower Höhen Scheinwerfer einsetzen ließ, um die Gegner sichtbar zu machen. Tatsächlich machten sie aber die Sowjetsoldaten für die weit unterlegenen Deutschen sichtbar. Die 1. Weißrussische Front erlitt entsetzliche Verluste.

Auch in den Straßen von Berlin ging es blutig zu. Stadtteile oder Straßen wechselten mehrmals am Tag die Besetzer. Als die Kämpfe zu Ende waren, begannen die Plünderungen und die Vergewaltigungen. Boveri berichtet, aber sie ist eher auf der Seite der Sowjets. Überhaupt war es für mich das Erstaunlichste zu erfahren, wer alles in Berlin ausgeharrt hatte, um am Ende des Krieges den Sowjets seine Dienste anzubieten. Das waren keineswegs nur die Kommunisten, sondern zahlreiche bürgerliche Intellektuelle mit klangvollen Namen, die sich umgehend bemühten, das Leben, vor allem das kulturelle, neu zu organisieren. Zeitungen wurden herausgegeben, Verlage gegründet, Konzerte veranstaltet. Boveri trifft sie alle bei abendlichen Zusammenkünften: Herrnstadt, Ullstein, von Trotha, von Einsiedel, Reventlow, Mommsen, Dahrendorf, von Eynern – „das könnte was werden, falls in Deutschland je noch etwas werden kann.“

Vorerst behält das Chaos die Oberhand, weil sich die Alliierten schon unmittelbar nach dem Ende des Krieges entzweien. In Charlottenburg, wo Boveri wohnt, halten die Amerikaner, von vielen sehnsüchtig erwartet, Einzug. Die Plünderungen und Requirierungen gehen ungebremst weiter. Der Unterschied ist nur, dass die sowjetischen Soldaten alles sofort zerstört haben, die Amerikaner erst, wenn sie die beschlagnahmten Möbel und Gegenstände nicht mehr brauchten. Ende 1945 war nicht abzusehen, dass es nach der endgültigen Teilung der Stadt mit Westberlins Wiederaufbau erstaunlich schnell gehen würde. Es wurde zum Schaufenster für den Osten. Nach nur drei Jahren wurden die Westberliner während der Blockade sogar zu Freiheitshelden.

„Schaut auf diese Stadt!“ Aber das ist schon eine andere Geschichte. Boveris Buch gibt es nur noch antiquarisch in wenigen Exemplaren. Es hätte eine Wiederauflage verdient.



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