Lieber Spiegel, Du bist ein Westmedium geblieben

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Von Peter Schewe

Lieber Spiegel,

seit gut 30 Jahren (vorher war es wegen der deutschen Teilung nicht möglich) habe ich Dir die Treue gehalten und mich Woche für Woche durch die ausführlichen Berichte, Reportagen, Interviews und Essays gelesen. Zeit für andere Literatur blieb da wenig. Schon zu DDR-Zeiten habe ich mir, wenn es irgendwie möglich war, illegal Deine Hefte besorgt und jedes Wort ausgewrungen wie ein nasses Handtuch. Mehrere Umgestaltungen Deines Outfits habe ich überstanden und manchen Leserbrief, der nicht und wenn, dann nur gekürzt (oft sinnentstellend) abgedruckt wurde, geschrieben. Aber wie oft in einer langen Beziehung, befielen mich immer mehr Zweifel, ob wir noch auf derselben Wellenlänge liegen.

Schon seit längerem stelle ich fest, dass der Osten Deutschlands bei Dir immer weniger bis gar nicht vorkommt. Du bist ein Westmedium geblieben, den Blick immer nur vom Westen aus auf Deutschland gerichtet. Hamburg liegt nun mal nicht im Osten. Eine Reportage „Quer durch Deutschland“ verläuft entlang der B 3 von Hamburg nach Basel, westlicher geht nicht. Die Nachkriegsgeschichte betrachtest Du immer aus der Perspektive der alten Bundesrepublik, was in der DDR geschah bleibt weitgehend ausgeblendet oder wird nur am Rande erwähnt. Die eigenen Archive geben da wohl nicht viel mehr her.

Da ändern auch Deine beiden Ostler Osang und Gutsch wenig, die einzigen die noch einen erfrischenden Ostblick auf uns werfen dürfen. Für mich erstaunlich, dass selbst die nach 1990 geborenen und gesamtdeutsch sozialisierten Schreiber diesen Westblick übernommen haben.

Komisch, dass mir dieser Umstand umso bewusster wurde, je länger ich (seit 2012) im Westen lebe.

In dem Sonderheft Nr. 35a „Die Systemsprenger“ werden nicht nur der Osten komplett ausgeblendet (da nützen auch die beiden aus Bautzen und Leipzig nichts) sondern ein ganzer Teil unserer jungen Menschen. Nämlich die, die sich nicht festkleben auf der Straße und anderen ihre Ansichten aufzwängen wollen oder ihre Befindlichkeiten im Netz verbreiten oder sich von Brücken abseilen, sondern die, die täglich früh sich aus dem Bett quälen und zur Arbeit fahren, um nach 8 Stunden müde in ihren Feierabend zurückzukehren. All diejenigen, die den Laden am Laufen halten und die Werte schöpfen, die anderen dann ermöglichen, zu studieren, zu gendern und Karriere im Netz oder in der Politik zu machen. Die in den Werkhallen zusammenschrauben, was uns allen das Leben angenehmer macht, die in der Hitze oder Kälte auf dem Feld oder im Stall das erzeugen, was wir im Supermarkt in den Regalen finden.

Die täglich dafür sorgen, dass wir alles haben, was wir uns wünschen. Diese Menschen kommen in dem Sonderheft nicht vor. Sie sind ja auch nicht die ‚Systemsprenger‘, sondern die, die täglich damit beschäftigt sind, das System noch am Laufen zu halten.

Was zeigt uns das? Dass Du Dich in einer Blase bewegst und den Bezug zum Alltag der Menschen schon weitgehend verloren hast. So wie der Osten außen vor bleibt, so findet der größte Teil unserer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Realität bei Dir nicht mehr statt.

Diese Realität ist mehr, als nur das intellektuelle Spektrum linksorientierter Jungerwachsener.

Ausblenden und Verschweigen ist auch eine Art der Lüge.

 

 

 

Und nicht genug, dem Ganzen setzt Du jetzt noch die Krone auf mit der Behauptung Deines Schreibers Schaible, es gebe gar keine Cancelkultur, diese sei nur eine Erfindung des rechten Spektrums unserer Gesellschaft um wiederum die Linken diskreditieren zu können.

Wer so um die Ecke denkt und die offensichtlichen Tatsachen verdreht und die Opfer dieser Kultur alle in die rechte Ecke stellt, dem gibst Du gleich in zwei Ausgaben eine Bühne. Lieber SPIEGEL, das ist Cancelkultur mit umgedrehtem Vorzeichen. Dafür bin ich 1989 nicht auf die Straße gegangen, um mir von einem im gleichen Jahr geborenen Gedankenakrobaten sagen zu lassen, was ich sagen darf bzw. lieber nicht sagen sollte.

Es hat sich was verschoben in Deutschland, wer sich liberal-konservativ verortet, findet sich plötzlich dem rechten Spektrum zugeordnet. Das Koordinatensystem hat sich deutlich nach links verschoben. Ob das an den Systemsprengern liegt, die ja nicht die Mehrheit bilden wage ich zu bezweifeln. Die Ursache liegt eher darin begründet, dass diesen wenigen ‚Aktivisten‘ von den Medien eine ungleich höhere Aufmerksamkeit geschenkt wird, wie Dein Sonderheft wieder mal deutlich macht. Die schweigende Mehrheit kommt nicht zu Wort. Erst wieder wenn sie auf die Straße geht, wird über sie berichtet, dann aber als rechte Querdenker, Dunkelhüte, Pack und neuerdings sogar als ‚Staatsdeligitimer‘ beschimpft.

Also lieber SPIEGEL mach weiter so, aber nicht mehr mit meinem Geld. Ich beende unsere langjährige Beziehung und kündige mein Abo.

Servus !

Peter Schewe



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