Leitkultur ohne Leitfigur ?

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Gedanken zu einem unbestimmten Begriff

Von Peter Schewe

Kaum ein Begriff der politischen Debatte ist so nebulös, wie der einer Leitkultur. Egal ob europäische oder deutsche Leitkultur, es ist der Weckruf zur Verteidigung des Abendlandes gegen die Gefahr einer islamistischen Überfremdung und ein Kampfbegriff gegen Multikulti.

Natürlich denken wir sofort an Christentum, an unsere christlichen Werte, die 10 Gebote, an Tradition und Brauchtum, an Fleiß und Ordnungsinn. Nur sind uns diese Werte nicht schon längst abhanden gekommen, schon bevor der politische Islam uns bedrohte? Haben wir nicht die Leitfigur für unsere Leitkultur schon längst in die Wüste geschickt?

Hier in Bayern hört man es noch oft: „Pfüat’ di“. Es ist das, was von dem Abschiedsgruß „Behüt (führ) Dich Gott“ noch übrig geblieben ist, das Wort Gott fiel schon der bayerischen Sprachökonomie zum Opfer. Auch das noch gebräuchliche „Grüß Gott“ wird immer mehr vom unverbindlichen „Hallo“ verdrängt.

Modernere Menschen sagen beim Abschied: „Pass auf Dich auf“, sie trauen Gott diese Aufgabe nicht mehr zu und übertragen sie dem zu Behüteten selbst. Aber welch schwere Last sie damit diesem aufladen, scheint ihnen nicht bewusst zu sein. Wie soll ich mich selbst behüten vor Geisterfahrern, Messerstechern oder sonstigen lebensbedrohlichen Zufällen?

Was sagt uns also dieses Beispiel aus dem täglichen Sprachgebrauch? Den Gott, dem wir Verantwortung übertragen bzw. aufladen können, haben wir abgeschafft. Für alles sind wir selbst verantwortlich. Ganz gleich ob das, was wir als Schicksal bezeichnen, also alles was unser Leben bestimmt und außerhalb unseres Einflusses stattfindet, unsere Gesundheit, das Wetter, besser gleich noch das Klima, die Geburt und der Tod, all das liegt jetzt allein in unserer Verantwortung, Gottvertrauen war gestern. Wir nehmen die Leitung unseres Lebens selbst in die Hand, bestimmen selbst, was wir sind und wer wir sein wollen. Wäre doch gelacht, wenn wir das nicht hinkriegten mit dem Klima, selbst der Tod schreckt uns nicht mehr, wir überlisten ihn einfach, so wie der Brandner Kaspar den Borndlkramer (Knochensammler) in der gleichnamigen Komödie.

Aber sind wir mit diesem Wandel, dieser Aufbürdung für alles, was unser Dasein bestimmt, wirklich glücklicher als jene, die die Verantwortung für ihr Schicksal abgeben und sich unter den Schirm Gottes begeben konnten?

Nehmen wir unsere Gesundheit, die Unversehrtheit unseres Körpers und des Geistes. Schon die Geburt entscheidet, welche Veranlagungen, welche Begabungen oder Handicaps uns mitgegeben werden. Die Bandbreite ist enorm, nur was kümmert uns das? Wir sind überzeugt, alle Menschen haben die gleichen Chancen, man muss sie ihnen nur gewähren. Körperliche oder geistige Behinderungen sind abgeschafft, wir haben die Inklusion erfunden, mit dem Ergebnis, dass alle etwas dümmer bleiben, aber die Gerechtigkeit gesiegt hat. Eliten darf es wegen der Chancengleichheit ja nicht mehr geben.

Wir haben es in der Hand, wie gesund und wie lange wir leben, wir lassen uns vom Tod das Leben nicht verderben. Wir nennen es Selbstoptimierung, Sport  und gesunde Ernährung sind ein Muss. Folgt man den Empfehlungen und Warnungen der Ernährungspropheten, könnte man versucht sein, gar nichts mehr zu essen, denn alles ist letztlich Gift für den Körper. Angesichts der vielen Übergewichtigen scheint diese Warnung aber wenig zu bewirken. Dass wir uns beim Jogging, Fußball oder Tennis die Gelenke ruinieren, juckt uns wenig, dafür gibt es ja schließlich jederzeit Ersatzteile. Wer mit 70 noch keine neue Hüfte hat, macht sich verdächtig, ungesund gelebt zu haben.

Versagen unsere Organe und klopft der Tod an die Tür, schlagen wir ihm ein Schnippchen, schließlich gibt es ja irgendwo jemand, durch dessen Tod ich mein Leben um einige Jährchen verlängern kann, mit einer neuen Niere, Lunge oder Leber. Sogar ein fremdes Herz darf es sein. Während Gesundheitspolitiker, Ärzte und Ethikkommissionare uns ständig ermahnen und nötigen, unsere Organe zur Verfügung zu stellen, so dass man ohne Spenderausweis schon ein schlechtes Gewissen hat, sollten wir uns mal fragen, ob es legitim und ethisch zu verantworten ist, auf den Tod eines anderen zu hoffen bzw. diesen billigend in Kauf zu nehmen, nur um mein bedrohtes Leben um Monate oder einige Jahre zu verlängern? Ein Zuckerschlecken ist diese Restlaufzeit auch nicht, muss ich doch mein Immunsystem außer Betrieb setzen und bin dann für alle anderen Krankheiten umso anfälliger. Manch einem hat auch die dritte Niere nicht geholfen.

Die wieder ins Gespräch gebrachte Widerspruchslösung als Rezept, das Ersatzteilangebot zu erhöhen, stellt uns noch deutlicher vor die moralische Frage: Habe ich einen Anspruch auf ein Ersatzorgan, wenn ich der Verwertung meiner eigenen Organe widerspreche? Und nicht zu vergessen: Die Transplantationsmedizin ist eines der einträglichsten Geschäftsfelder unseres nicht mehr finanzierbaren Gesundheitssystems.

Wie selbstbestimmt sind denn unser Leben und unser Tod? Schon Zeugung und Geburt sind nicht selbstbestimmt und das Leben? Von wie vielen Zufällen, Einflüssen und Umständen wird denn unser Leben bestimmt, in welches Milieu werden wir hineingeboren, welchen Krankheiten oder Unfällen, welchen Umweltbedingungen oder Naturkatastrophen werden wir ausgesetzt, welchen Angriffen auf unser fragiles Leben müssen wir uns erwehren oder erliegen ihnen?

Spätestens die eigenen Kinder beenden abrupt unser selbstbestimmtes Leben, Versorgung und Betreuung bestimmen fortan unseren Alltag. Ein selbstbestimmtes Leben ist und bleibt eine Fiktion. Unser Leben wird bestimmt von Kräften, die außerhalb unseres Einflusses wirken. Wir haben nicht alles im Griff. Das mag manchen nicht gefallen, aber Verantwortung abzugeben, wäre für viele auch eine Erleichterung und Gnade.

Vielleicht ist der eigene Tod wirklich das einzige, was wir selbst bestimmen können. Aber haben wir deshalb auch ein Recht dazu, sollten wir nicht auch diese Entscheidung den Kräften überlassen, die uns in dieses Leben geholt haben? Sollten wir nicht einfach mal dem Leben und dem eigenen Tod vertrauen, anstatt immer nur auf unser Recht nach Selbstbestimmung zu pochen? Vielleicht ist ja das fremdbestimmte Sterben gar nicht so furchtbar, wie wir Lebenden es uns vorstellen. Vielleicht verleiht es uns erst die Würde und Erfüllung, nach der wir das ganze Leben lang gestrebt haben. Nur so können wir den Tod besiegen, nicht durch feiges Ausweichen in den Suizid.

Früher machte Petrus das Wetter. Heute sind wir selber für jede Flut, für jeden Hagelschlag, für Trockenheit, Waldbrände und jeden Starkregen als Folge unserer verschwenderischen Lebensweise verantwortlich. So jedenfalls wird versucht, es uns glauben zu machen und eine Mehrheit scheint davon auch bereits überzeugt zu sein.

Mit Opfergaben und Gebeten wurde früher versucht, Dürre und Sintflut abzuwenden, kamen sie trotzdem, war es Gottes Wille oder Strafe, eben Schicksal. Statt Gott zu vertrauen, seine Schöpfung nicht untergehen zu lassen, glauben wir jetzt den Propheten der Wissenschaft, die uns eine Klimakatastrophe und das Ende unseres Daseins in Aussicht stellen. Dafür muss das CO2 herhalten, die einzige Komponente, deren Menge wir evtl. steuern können. Alle anderen Einflüsse, für die wir nicht verantwortlich gemacht werden können, wie etwa die Intensität der Sonnenstrahlung oder die Wolkenbildung werden marginalisiert oder ganz weggelassen. Ängste, Ohnmachtsgefühle, Wut und Hungerstreikende sind das Ergebnis dieser perfiden Art, Menschen umerziehen zu wollen.

Leitkultur ist das neue Schlagwort der Politik, das es bis ins CDU-Programm geschafft hat. Doch ohne Leitfigur bleibt es ein schwammiger, schwer zu definierender Begriff. Wer leitet uns und wohin? Leitkultur sollte unser Koordinatensystem sein, in dem wir uns orientieren und unser Leben eine Struktur, eine Richtung bekommt. Aber seit dem wir die Leitfigur abgeschafft haben, fehlt diesem Koordinatensystem der Festpunkt, es lässt sich beliebig verschieben, nach links oder rechts, je nach Gutdünken derer, die meinen, den Diskurs auf ewig bestimmen zu können.

Regenstauf, den 23.06.2024



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