Von Annette Heinisch
“Derweil immer mehr Deutsche auswandern, um in Freiheit leben zu können.”
Mit diesem Satz schließt der Beitrag Henryk Broders zu den märchenhaften Ausführungen des ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff (CDU) über die Vorteile der ungezügelten Migration.
In Freiheit leben zu können ist der Kern unserer Verfassung, dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Christian Hillgruber, Professor für Öffentliches Recht an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn, beschreibt es so:
“Im Mittelpunkt des Grundgesetzes aber steht der freie Mensch. Im Parlamentarischen Rat formulierte der Zentrumsabgeordnete Johannes Brockmann hellsichtig:
„Wir als Parlamentarischer Rat, der die erste Grundlage für diese Zukunft zu schaffen hat, werden unserer Verantwortung gegenüber der Zukunft gerecht, wenn wir die Freiheit als oberstes Prinzip über alle unsere Arbeit stellen.”
Einer der Väter des Grundgesetzes, der Staatsrechtler Carlo Schmid (SPD) bezeichnete die Menschenwürde als “eigentlichen Schlüssel für das Ganze”, welche das Verständnis der freiheitlichen Grundrechte präge. Übrigens: Menschenwürde ist kein Grundrecht, sondern den Menschen immanent. Sie beruht auf der Überzeugung, dass der Mensch gottesebenbildlich ist, daher auf seine Art “heilig”. Diese zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt (Art. 1 Abs. 1 GG). Die Menschenrechte sind eine logische Folge dieses Menschenbildes. Aus gutem Grund steht im dritten Absatz des Art. 1 GG, dass die nachfolgenden (!) Grundrechte alle drei Staatsgewalten als unmittelbar geltendes Recht binden.
Es wird zu oft übersehen, dass das jeweiligen Menschenbild und die Grundüberzeugungen Verfassungen prägen, nicht umgekehrt. Eine Verfassung fasst lediglich die vorhandenen Überzeugungen in Worte.
Unser Grundgesetz beruht nach den furchtbaren Erfahrungen des kruden (atheistischen) Menschenbilds der Nazis ganz ausdrücklich auf dem christlichen: Es wurde ausweislich der Präambel im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen verfasst.
Wenn die Menschenwürde der Schlüssel ist, ist das Christentum der Haken, an dem der Schlüssel hängt. Und wie Noten ohne Notenschlüssel keinen Sinn ergeben, bedarf es zum Verständnis der Verfassung dieses Schlüssels.
Zwei Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit machen das anschaulich.
Zwei Denkschulen?
Es gäbe zwei Denkschulen in der Regierung, so sagte Finanzminister Christian Lindner (FDP).
Die eine ist für hohe Schulden, um Subventionen verteilen zu können, mit denen die Wirtschaft (und das Volk) gelenkt werden sollen.
“Hinter allen schuldenfinanzierten Programmen stehe „die Anmaßung von Wissen des Staates“, sagte Lindner.”
Demgegenüber stehe die “Denkschule”, dass es Aufgabe der Politik sei, die Rahmenbedingungen für Handwerk, Mittelstand, freie Berufe und Industrie zu verbessern. Da Lindner vor dem Wirtschaftsrat der CDU sprach, bezog er sich auf diesen Aspekt, aber dies gilt darüber hinaus natürlich auch für alle anderen Bereiche des Staates.
Eine von diesen zwei “Denkschulen” dürfte es nach den Grundsätzen unserer Verfassung nicht geben, denn danach hat ist Aufgabe des Staates, dem freien Menschen zu dienen. Alle Lenkungs – oder Erziehungsmaßnahmen widersprechen dem.
Wie also kann es sein, dass es überhaupt zwei “Denkschulen” gibt, wovon ausgerechnet diejenige, die entgegen unserer Verfassung an alte absolutistische/autoritäre/totalitäre Zeiten anknüpft, so viel Bewunderung und Zustimmung erfährt? Nichts gelernt?
Privatsphäre
Ein grundlegender Bestandteil der Menschenwürde ist das Recht auf Privatsphäre. Das wohl bekannteste Lied des Musicals “Elisabeth” heißt “Ich gehör nur mir” und postuliert sehr eindringlich:
Ich will nicht gehorsam, gezähmt und gezogen sein
Ich will nicht bescheiden, beliebt und betrogen sein
Ich bin nicht das Eigentum von dir
Denn ich gehör’ nur mir
Ich möchte vom Drahtseil herabseh’n auf diese Welt
Ich möchte auf’s Eis gehn und selbst seh’n, wie lang’s mich hält
Was geht es dich an, was ich riskier’?
Ich gehör’ nur mir
Willst du mich belehren, dann zwingst du mich bloß
Zu flieh’n von der lästigen Pflicht
Willst du mich bekehren, dann reiß’ ich mich los
Und flieg’ wie ein Vogel ins Licht
Und will ich die Sterne, dann finde ich selbst dorthin
Ich wachse und lerne, und bleibe doch wie ich bin
Ich wehr’ mich, bevor ich mich verlier’
Denn ich gehör’ nur mir
Dabei geht es nicht um Individualismus oder egoistische Ich – Bezogenheit anstelle gemeinwohlorienterten Handelns. Es geht ganz grundsätzlich um das Verhältnis von Staat und Bürger. Der Bürger besitzt sein eigenes, sein privates Leben. In dieser Privatssphäre kann er tun und lassen, was er will, es geht niemanden etwas an. Grenze sind nur die Gesetze. Wenn diese verletzt werden, sind in einer zivilisierten Gesellschaft die zuständigen Behörden einzuschalten, ein aufgewiegelter “Lynchmob” ist absolut indsikutabel. In einem ordentlichen Verfahren wird der Vorwurf untersucht, ein Beschuldigter kann sich verteidigen.
Und was passiert bei uns? Da wird das Privatleben von unbescholtenen Bürgern, die nichts Verbotenes tun, ausgespäht (Stichwort “Wannsee – Konferenz”), um sie den Wölfen zum Fraß vorwerfen zu können. Oder es werden angeheiterte Nobodies öffentlich “gekreuzigt”, die zulässigerweise ein Lied singen. Auch dann, wenn unerlaubte Symbole gezeigt werden, ist dieses kein Fall für die Hexenjagd, sondern ggf. für den Staatsanwalt. Dabei ist es völlig egal, ob Klamotten aus Kaschmir oder von KIK getragen werden – Stichwort unantastbare Menschenwürde. Natürlich und glücklicherweise ist das Zeigen von unverpixelten Fotos mittlerweile gerichtlich untersagt worden.Aber der Schaden ist entstanden. Mein Mitgefühl haben die auf dem Scheiterhaufen des öffentlichen Prangers Verbrannten.
Was mich abgrundtief erschreckt:
Das nicht einmal mehr Unrechtsbewusstsein vorhanden ist. Jedermann verhöhnt “rich kids”, man beeilt sich, auf der “richtigen Seite” zu stehen.
Kaum einer hat noch Gespür dafür, welche fatalen und unsere Verfassung verspottenden Grenzüberschreitungen hier geschehen. Wer demonstriert, will öffentlich wahrgenommen werden. Wer auf öffentliche Veranstaltungen geht, rechnet damit. Aber wer sich privat äußert, hat das Recht, dass sein privates Verhalten privat bleibt. Wer sich darauf nicht mehr verlassen kann, lebt nicht mehr im Staat des Grundgesetzes. Er lebt in ständiger Angst in einem Totalitarismus neuer Art.
Dies aber ist nicht der Staat des Grundgesetzes. Und deshalb verlassen viele dieses Land, um woanders in Freiheit leben zu können.