Die Reichsbürger-Schauergeschichte

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Seit gestern gehören Berichte, dass der Prozess gegen die Oberhäupter der „terroristischen Vereinigung“ um den XIII. Prinz Reuß begann, zu den Hauptmeldungen des Tages. Was den Bürgern von den Medien dazu aufgetischt wird, ist ein Angriff auf den gesunden Menschenverstand. Ich beschränke mich auf vier meinungsmachende Medien, zwei davon würden sich selbst als Qualitätsmedien bezeichnen, das dritte Medium ist eine Online-Plattform, die immer wieder durch Tendenz-Berichterstattung auffällt.

Beginnen wir mit der Welt. Diese veröffentlichte unter dem reißerischen Titel: “Irre, aber auch irre gefährlich“ ein Video, in dem der Investigativ-Redakteur Ulrich Kreatzer seine Analyse zum bevorstehenden Prozess ausbreitet. Die irre Gefährlichkeit der Rentnertruppe begründet er damit, dass diese über 300 Waffen verfügt hätten, ohne zu spezifizieren, um welche Art Waffen es sich handelt. Wer sich erinnern kann, weiß, dass auf den Fotos, die nach den Haussuchungen der greisen Terroristen von den Untersuchungsergebnissen veröffentlicht wurden, u. a. antike Speere, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, auch ein Morgenstern, wie er im Bauernkrieg 1524-1525 verwendet wurde, zu sehen waren, jedenfalls nichts, was annähernd dem aktuellen Stand der Waffentechnik entsprochen hätte.

Mit diesen Waffen, so wird dem Publikum ernsthaft nahegelegt, wollten die alten Herrschaften angeblich den Reichstag stürmen, um Volksvertreter festzunehmen. Der Investigativ-Redakteur gibt sich überzeugt, dass dies ein mögliches Szenario gewesen wäre. Den Zugang zum Reichstag hätte angeblich eine ehemalige AfD-Abgeordnete ermöglichen sollen. Wie sie das bewerkstelligen sollte, nachdem die Zugangsbedingungen für Besucher, auch von Abgeordneten, von der Ampel extrem verschärft wurden, bleibt ein nicht recherchiertes Geheimnis.

Abgeordnete müssen ihre Besucher mit Namen und Adresse anmelden. Sie können neben Gruppen, deren Mitglieder genau überprüft werden, nur fünf Einzelbesucher pro Tag empfangen, die selbstverständlich auch überprüft werden. Als touristische Besucher getarnt, würden die Erstürmer des Reichstags auch strengen Sicherheitskontrollen unterworfen. Wie auf Flugplätzen ist es unmöglich, Waffen durch die Kontrollen zu schmuggeln. Die Terroristen könnten für den Sturm höchstens ihre Gehstöcke einsetzen. Ob das ausreicht, die zahllosen Sicherheitsleute, die sich im Reichstag befinden, außer Gefecht zu setzen und zum Teil über 700 erheblich jüngere und fittere Abgeordnete festzunehmen, ist fraglich.

Trotzdem macht dieses absurde Szenario nach Meinung unseres Investigativ-Reporters die Gefährlichkeit der Terror-Senioren aus. Wohin die festgenommenen Volksvertreter denn gebracht werden sollten, darüber wird ein Mantel des Schweigens gebreitet, denn dann würde herauskommen, dass eine solche Möglichkeit nicht besteht, es sei denn, man glaubt allen Ernstes, dass es geeignete Katakomben im Thüringer Schloss des XIII. Prinz Reuß gibt.

Aber es wird noch absurder. Angeblich sollte der Sturm auf den Reichstag an einem Tag X stattfinden, an dem auswärtige Mächte, möglicherweise russische, die deutsche Regierung außer Gefecht gesetzt haben. Es soll dafür sogar Gespräche gegeben haben, allerdings ohne Erfolg, denn wenn der XIII. Prinz Reuß und seine Altersgenossen tatsächlich in der russischen Botschaft um solch eine Amtshilfe gebeten haben sollten, sind sie höchstwahrscheinlich für Scherzbolde mit versteckter Kamera gehalten und lachend hinauskomplimentiert worden. Die deutschen Leser dieser Umsturzberichte sollen den ganzen Quatsch allerdings für bare Münze nehmen und sich vor den gefährlichsten Terroristen, die Deutschland je hervorgebracht hat, fürchten. Kreatzer ist allerdings nicht ganz wohl bei dem, was er vorträgt, denn er betont mehrmals, wie irre die Pläne seien, dass sie niemals hätten funktionieren können, dass es die hilfreiche Allianz niemals gegeben hat. Warum, so fragt man sich genervt, sollen wir dann an die Gefahr glauben? Hält uns Kreatzer, halten uns die Haltungsjournalisten, für so blöd?

Die Morgenpost berichtet von der angeblichen Gründungssitzung der terroristischen Vereinigung. Eine Astrologin, ein Unternehmer, zwei Ex-Soldaten von der KSK und eine weitere Person haben diese Untat vollbracht, vor der wir alle zittern sollen. Drei Männer hätten das „Kraftzentrum“ der Terrorsenioren gebildet. Einer davon habe den „militärischen Arm“ geleitet, der die Putschpläne von XIII. Prinz Reuß militärisch absichern sollte. Allerdings vermisst man Angaben, wie stark dieser Arm eigentlich gewesen sein soll. Man erfährt nur, dass es „Rekrutierungsversuche“ bei der Polizei und beim Militär gegeben haben soll. Über den offensichtlichen Misserfolg dieser Versuche erfährt man nichts. Man darf davon ausgehen, dass es solche Erfolge nicht gegeben hat und der militärische Arm einer ohne Militär war. Wenn es Erfolge gegeben hätte, wäre uns das mitgeteilt worden, um die Gefährlichkeit der Senioren-Terroristen zu unterstreichen. Der Chef des waffen- und mannarmen Arms wird übrigens als Mann beschrieben, der Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts ein Mitte-40-Jähriger gewesen sei. Da ich in der Schule noch rechnen gelernt habe, weiß ich, dass der Deutschland-Gefährder heute Mitte 70 ist, ein Fakt, den man den Lesern offenbar nicht so deutlich vermitteln will.

Bei T-Online erfährt man, dass die Reichsbürger, deren Oberhaupt XIII. Prinz Reuß sein soll, was er am ersten Prozesstag bestritten hat, keine einheitliche Bewegung seien. Zu den angegebenen 23.000 Anhängern werden auch die „Selbstversorger“ gezählt. Da muss man allerdings befürchten, dass man selbst in Reichsbürger-Verdacht geraten könnte, wenn man den Empfehlungen der Bundesregierung für die Vorratshaltung folgt. Es soll unter den Reichsbürgern Holocaust-Leugner und Anhänger der Deep-State-Theorie geben, auch die Auffassung, das Kaiserreich existiere fort und das vereinigte Deutschland wäre nach wie vor kein souveräner Staat. Allerdings sind es nicht die den Holocaust leugnenden Reichsbürger, die seit dem 7. Oktober letzten Jahres auf Straßen und Plätzen antisemitische Parolen brüllen und die Auslöschung Israels fordern. Letztere sollen laut Innenministerin Faeser kein größeres Problem sein, weil sie angeblich keinen Umsturz fordern. Die Losung „Kalifat ist die Lösung“ scheint zur Demokratieunterstützung gezählt zu werden. Jedenfalls zählen solche Parolen offensichtlich nicht zum neuen Verfassungsschutz-Beobachtungsgrund der „Delegitimierung des Staates“. Wenn ich mich nicht täusche, war es Verfassungsschutzchef Haldenwang, der geäußert hat, der muslimische Antisemitismus würde sich „beruhigen”, wenn das Gaza-Problem gelöst sei. Rechtsextremismus bleibe dagegen „eine deutsche Konstante“.

NTV berichtet unter der reißerischen Überschrift, Prinz Reuß wollte „einen nach dem andern“ umlegen, wobei unklar bleibt, wem diese mörderischen Phantasien, die am Telefon geäußert worden sein sollen, galten, über die erschreckende Waffenstärke der Alters-Terroristen: 380 Schuss-, 350 Hieb- und Stich- und 500 „weitere“ Waffen (Küchenmesser?), sowie 148.000 Munitionsteile, was immer man sich darunter vorstellen soll. Es sollen Personen bestimmt worden sein, die sich mit Schießtraining für den großen Umsturz ertüchtigen sollten. Selbst wenn alle 1.300 Waffen von ebenso vielen Trägern zum Einsatz kommen würden – wie könnte es ihnen gelingen, in einem 84-Millionen-Land mit 181.000 Soldaten und fast 290.000 Polizisten die Macht zu ergreifen? Dass uns die irre Truppe ernsthaft als Gefahr serviert wird, ist das eigentlich Gefährliche, denn es zeigt, wozu Journalisten bereit sind.



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