Das Desaster – und Wunder – von Tokio

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Von Hans Hofmann-Reinecke

Je seltener Desaster werden, desto mehr Aufsehen erregen sie. Die Luftfahrt ist mit täglich 100.000 unfallfreien Flugbewegungen extrem sicher geworden, und so ist die Kollision zweier Maschinen auf dem Flughafen von Tokyo ein Ereignis, das uns alle berührt. Es deutet vieles darauf hin, dass hier „menschliches Versagen“ im Spiel war, vielleicht ähnlich wie bei einem Zwischenfall, der sich 2020 im Himmel über Paris abgespielt hat. Es war aber auch übermenschliche Hingabe im Spiel, der das Überleben aller Passagiere des Airbus zu verdanken ist.

250 Tonnen mit 250 km/h

Wir sprechen im Deutschen von Start- und Landebahn; das suggeriert, es würde sich hier um zwei verschiedene Dinge handeln. Tatsächlich aber ist es meist dasselbe Stück Asphalt, auf dem die Flugzeuge starten und landen,  im Englischen „Runway“ genannt.  Eine Maschine, die starten möchte, muss warten, bis eine ankommende gelandet ist. Die hat sich typischerweise in 10 oder 20 Kilometer Entfernung auf einer geraden Linie in Ausrichtung der Bahn, auf der sie landen will, und mit etwa 3° Gefälle eingefädelt. Wenn dann so ein Ding mit 250 km/h  und ebenso vielen Tonnen hereinrauscht, dann kann es nicht ausweichen, da muss die Bahn frei sein.

Eine Maschine, die abfliegen will, wartet querab von der Bahn, weit genug entfernt, um das ankommende Flugzeug nicht zu stören. Sie darf erst starten, wenn die Bahn wieder frei ist, darf sich aber schon vorher in Startposition bringen, um ein paar Handgriffe im Cockpit zu erledigen, die unmittelbar vor dem Start fällig sind. Dadurch spart man Zeit.

Das Rollen von der Warteposition auf die aktive Bahn ist ein kritischer Akt und muss natürlich vom Lotsen im Tower freigegeben werden. Und wiederum, zur Zeitersparnis, wartet der Tower nicht, bis die ankommende Maschine die Räder aufgesetzt hat, um seine Erlaubnis zu geben, sondern es ist gängige Praxis, dass dem Wartenden gesagt wird, dass er nach der gelandeten Maschine auf die Bahn rollen darf. Im Pilotenjargon heißt das dann:  „xyAIR after landing Airbus line up and wait runway 34 right“ Dabei ist xyAIR das „Callsign“ der wartenden Maschine und „runway 34 right“ ist die Identifikation der Bahn, um die es geht. In Haneda gibt es einige Runways, in dem Fall war es die Bahn mit Richtung 340°, und zwar die Rechte von zwei parallelen.

 

Disziplin in Wort und Tat

Diese Abstimmungen sind offensichtlich eine Sache auf Leben und Tod. Es darf nicht vorkommen, dass der wartende Pilot etwa den ersten Teil der Freigabe verpasst und nur zu hören bekommt: „…line up and wait runway 34 right.“ Daher muss der Pilot eine Freigabe wörtlich wiederholen und an den Tower zurückfunken; er hätte also jetzt die Fehlinformation wiederholt „line up and wait runway 34 right, xyAIR“ und der Tower hätte sofort korrigiert „Negative xyAir hold position“, denn der Pilot hatte das wichtigste nicht mitbekommen: „After landing Airbus…“

Das hört sich vielleicht etwas improvisiert an für eine so wichtige Steuerung. Ja, es gibt an Flugplätzen auch „Ampeln“, welche die Runways absichern, aber auch die müssen von Menschen geschaltet werden. Ohne 100% disziplinierte Kommunikation und Aktion ist der Flugverkehr nicht machbar.

Auch in Startposition auf der Bahn darf der wartende Pilot jetzt nicht die Gashebel nach vorne schieben, weil er glaubt die Bahn sei frei. Er könnte sich ja täuschen, etwa bei Nacht oder schlechter Sicht. Er muss auf die Freigabe „ xyAIR cleared for takeoff runway 34 right” warten und diese wörtlich wiederholen, bevor er startet. Am 27. Mai 1977 hatte ein ungeduldiger Pilot in Teneriffa nicht auf diese Freigabe gewartet und damit das bislang schwerste Desaster im Luftverkehr verursacht.

 

Wie in Paris?

Was nun genau am Flughafen Haneda in Tokio passiert ist, das wird eine längere Untersuchung klären müssen. Es spricht vieles dafür, dass eine De Havilland DHL-8, eine Turboprop-Maschine mit Gütern für Erdbeben-Opfer, auf die Bahn 34R gerollt ist und ihren Startlauf begonnen hatte. Der viel schnellere Airbus 350 / JAL Flight 516 ist dann auf genau dieser Bahn in DHL-8 „hineingelandet“.

Es gibt Aufzeichnungen des Funkverkehrs mit der Freigabe „Continue approach“ an den  JAL 512 Airbus. Das wäre aber keine Landefreigabe und keine Garantie, dass die Bahn frei ist; die gibt es erst durch ein „Cleared to land“. Der Pilot der DHL-8,  einziger Überlebender von sechs Personen an Bord seines Flugzeugs, versichert, er hätte Freigabe für die Runway und Starterlaubnis bekommen. Hatte der Tower vielleicht die Absicht gehabt, die beiden Maschinen auf die beiden parallelen Runways 34Right und 34Left zu verteilen, wo sie sich nicht ins Gehege gekommen wären? Und dann versehentlich denselben Runway zugewiesen, also beide nach 34R geschickt?

Es wäre nicht das erste Mal. Am 20. Juli 2020 wurde am Airport Charles de Gaulle in Paris eine Runway Kollision diesen Typs gerade noch verhindert. Damals hatte der Tower genau diesen Fehler gemacht und zwei Flügen versehentlich die gleiche Bahn 09R gegeben, obwohl die Absicht war, sie auf 09R und 09L zu verteilen.

So tragisch der Verlust von fünf Menschenleben in dem kleineren Flugzeug ist, so erfreulich ist es, dass alle Personen aus dem Airbus gerettet wurden. Da zeigt sich, dass das „Kabinenpersonal“ mehr drauf hat als freundlich lächeln und Mineralwasser verteilen. Die haben 279 Personen in 90 Sekunden aus dem brennenden Wrack evakuiert. Chapeau!

Dieser Artikel erscheint auch im Blog des Autors Think-Again. Der Bestseller Grün und Dumm, und andere seiner Bücher, sind bei Amazon erhältlich.



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