Von Gastautor Jonas Lengsfeld
Es ist jetzt ungefähr drei Wochen her, als ich zum ersten Mal die Showcase-Seite des derzeitigen Marktführers im Bereich der KI-Bildgenerierung, Midjourney, besuchte. Seither ist kaum ein Tag vergangen, an dem ich nicht über das nachgedacht hätte, was da zu sehen ist. In den ersten Tagen habe ich dabei geradezu um Luft ringen müssen.
Jeder, der diese Zeilen nicht nachvollziehen kann, sollte drei Dinge tun:
Erstens: das Folgende genau lesen und verstehen: Die Bilder, die dort gezeigt werden, sind nicht von Menschen gezeichnet worden, auch nicht ihre Einzelteile. Sie sind bis auf den letzten Bildpunkt originäre Schöpfungen einer künstlichen „Intelligenz‘“. Alles, was die menschlichen Nutzer dieser Plattform zu ihnen beigetragen haben, waren kurze, oft nur wenige Worte lange, Textbeschreibungen.
Zweitens: diesen Link klicken und sich die Bilder mindestens fünf Minuten lang genau anschauen (die übrigens nur eine Auswahl der besten Bilder des jeweiligen Tages sind) und dabei ruhig bei dem einen oder anderen Bild verweilen und die vielen kleinen Details betrachten. Am besten macht man das auf einem Handy, da man dort einzelne Bilder vergrößern kann. Es würde nichts bringen, hier Beispiele zu zeigen. Man muss schon ein ganzes Korpus dieser Werke gesehen haben, um die Tragweite zu begreifen.
Drittens sollte man sich die Frage vorlegen, wie viele Menschen man in seinem eigenen Bekanntenkreis hat, die Bilder dieser Qualität erschaffen können – nicht nachzeichnen, sondern als originäre Werke erschaffen. Wer wenigstens einen künstlerisch begabten Menschen kennt, dem er das zutrauen würde, soll sich dann die Frage stellen, wie lange dieser Mensch wohl für ein einziges dieser Bilder brauchen würde. Die Midjourney-KI braucht nur wenige Sekunden. Man findet keine Informationen über die Zahl der Bilder, die sie insgesamt am Tag produziert, aber es dürften hunderttausende sein.
Es ist unerheblich, ob diese Bilder dem persönlichen Geschmack entsprechen. Entscheidend ist, dass Midjourney und seine unzähligen Konkurrenten eine grundlegende Neuheit repräsentieren: marktreife, kreative Maschinen, die ihre Sache besser machen als die Mehrzahl der Menschen, die das Gleiche jahrelang geübt haben.
Niemand kann wissen, ob diese Neuheit vergleichbar ist mit dem ersten iPhone von 2007 und man in 15 Jahren über die KI-Bilder von heute nur müde lächeln wird. Doch wären Smartphones in den letzten 15 Jahren nicht besser geworden, wären sie vermutlich dennoch allgegenwärtig. Für ein Kind, das heute die Grundschule besucht, wird diese Art von Technik vollkommen normal sein.
Ich habe Midjourney als Beispiel gewählt, da die künstliche „Intelligenz“ hier ein Niveau erreicht hat, bei dem man nach menschlichem Ermessen von Meisterschaft sprechen kann. Doch auch in anderen Bereichen wie dem Komponieren von Musik, dem Transkribieren von Tonaufnahmen, dem Erstellen neuer Texte und Präsentationen, dem Beantworten von Emails, dem Programmieren, dem automatischen Abkassieren von Supermarktkunden, der Steuerung von Fahrzeugen, der Beobachtung der Bewegung von Personen in einem Raum mithilfe von WLAN-Signalen (das geht wirklich), der Erstellung von verlässlichen Persönlichkeitsprofilen auf Basis von wenigen Social-Media-Likes und vielen anderen, die zu zahlreich sind, um sie hier alle aufzuzählen, werden künstliche „Intelligenzen“ entwickelt.
Wahrscheinlich gibt es keinen Menschen auf diesen Planeten, der einen Überblick über den genauen Stand all dieser Entwicklungen hat. Sicher ist aber, dass mit diesen Systemen etwas fundamental Neues in die Welt gekommen ist. Diese Tatsache sollte man sich bewusst machen.