Auf der richtigen Seite der Geschichte? – Warum der Westen in der Ukraine die falsche Strategie gewählt hat

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Von Gastautor Michael Carlo Klepsch

Sind Gewalt und Kriege unabänderlich Teil der menschlichen Lebens;
gehört es zur Natur des homo sapiens, sich in Konflikten immer wieder
dieser Mittel zu bedienen, dass wir als Spezie geradezu verurteilt sind,
immer wieder die gleichen Tragödien zu erleben?

In der Beantwortung dieser Fragen stehen sich zwei Lager gegenüber.
Für die einen ist Fortschritt im Bereich der Naturwissenschaften
möglich; die menschliche Natur dagegen bleibe unveränderlich. Die
andere Seite macht einen – langsamen aber historisch doch
wahrnehmbaren – Prozess der menschlichen Zivilisation aus, der dazu
geführt habe, dass Gewalt und Kriege insgesamt abgenommen haben.
In einem Beitrag für den britischen Economist vom 09. Februar 2023
argumentiert der israelische Historiker Yuval Noah Harari für letzte
Auffassung. In seiner Argumentation, dass nicht weniger als der weitere
Verlauf der menschlichen Geschichte im Ukraine-Krieg auf dem Spiel
stehe, hebt Harari hervor, dass Krieg anders als Gravitation kein
Naturgesetz sei. Vielmehr betont er, dass der russische Angriffskrieg in
der Ukraine die weitgehende Ächtung des Krieges, wie er in den letzten
sieben Jahrzehnten in der internationalen Staatenwelt weitgehend
erreicht worden sei, in Frage gestellt habe.

Was Harari allerdings ausblendet, ist, dass die gewählte Antwort der
Gegengewalt auf Putins Aggression die Gefahr, die er beschwört, noch
weiter erhöht und in der atomaren Konfrontation zwischen zwei mit
Atomwaffen bis unter die Zähne hochgerüsteten Staaten – und ihren
Bündnissystemen – geradezu ins Unbeschreibliche droht gesteigert zu
werden. Auf diesen Widerspruch wird im erwähnten Beitrag nicht
eingegangen. Dies soll jedoch hier im folgenden versucht werden.

Abgewandelt von dem berühmten Nietzsche Zitat über Goethe1, soll
hier mit Bedauern festgestellt werden: Mahatma Gandhi ist in der
Geschichte der Menschheit ein Zwischenfall ohne Folgen; wer wäre
imstande, in der internationalen Politik der letzten 70 Jahre zum
Beispiel ein Stück Gandhi aufzuzeigen. Warum sollte das einmal
erreichte zivilisatorische Niveau im 21. Jahrhundert in der Reaktion auf
den russischen Überfall verloren gehen? Anders gewendet: Könnte das
Beispiel Gandhis nicht auch für den Ukraine-Krieg gelten? Wir wollen
kurz das Gedankenexperiment unternehmen und darlegen, dass der
Westen, insbesondere die europäischen Staaten, aus zivilisatorischer
Sicht die falsche Strategie gewählt haben: Hätte der ukrainische
Präsident Wolodymyr Selenskji sich auf den völkerrechtswidrigen
Einmarsch Putins in die Ukraine am 24. Februar 2022 in ein westliches
Land ins Exil begeben und hätte er sich gleichsam als letzte
Amtshandlung in einer Ansprache an sein Volk gewandt und dargelegt,
dass zur Verteidigung der Freiheit und Unabhängigkeit der Ukrainer ein
langer Kampf gegen die Besatzer ausgefochten werden muss, der aber
nach Gandhis Vorbild mit den Mitteln des zivilen Ungehorsams und
gewaltfreien Protests geführt werden müsse, dann wären nach
gegenwärtigem Stand wohl einige Hunderttausende Menschen am
Leben geblieben und den Ukrainern sowohl die Verwüstung ihres
Landes und seiner Infrastruktur als auch Millionen Ukrainern das
Schicksal der Flucht und des Exils erspart geblieben. Von der
ökologischen Katastrophe ganz zu schweigen, den ein Krieg immer
anrichtet, wobei erschwerend noch die Tatsache hinzukommt, dass
sich die größten Atomkraftwerke Europas in der Ukraine befinden.

Gandhi lebt heute in der Erinnerung der meisten als quasi religiöse
Vorbildfigur. Doch man sollte nicht übersehen, dass er in einem zähen
politischen Kampf über Jahrzehnte eine der erfolgreichsten Gestalten in
der Politik und Geschichte des 20. Jahrhunderts gewesen ist, dem das
heutige Indien seine nationale Unabhängigkeit zu verdanken hat.
Gandhis Erfolg war aber nicht nur ein Erfolg der Inder. Sein Einsatz war
in Gandhis überlegter Ablehnung der Gewalt als ein politisches
Instrument auch ein Erfolg für die Menschheit als Ganzes.

Stellen wir uns vor, Wolodymyr Selenskij wäre durch die Europäische
Union, welche sich nicht nur selbst als Frieden stiftende Macht
betrachtet und entsprechend 2012 vom Osloer Nobelkommitee mit der
Verleihung des Friedensnobelpreises gewürdigt wurde, ermutigt
worden, diesen Weg zu beschreiten, die moralische Seite des Konfliktes
hätte sich in überwältigender Weise gänzlich eindeutig dargestellt:
Selenskij hätte im Westen vermutlich derselbe erlebt, wie Gandhi in
Indien. „Wo er (Gandhi, der Verf.) sich zeigte, strömten die Menschen
zusammen, um ihn zu sehen und darshan, seinen Segen zu
empfangen“.2 Es ist sicherlich nicht zu viel gesagt, dass mit der
Fortschreibung der gewaltlosen Haltung Gandhis in die Gegenwart
hinein auch Selenskij die Reise nach Oslo als ein sicherer Kandidaten
für den Friedensnobelpreises bereits auf den Tag genau hätte
vorbereiten können; die moralischen Kraft einer solchen Haltung hätte
überdies zu einer beispiellosen weltweiten Isolation des Aggressors
geführt: Auf dieser Grundlage hätten wirtschaftliche Sanktionen gegen
Putins Regime eine gänzlich andere Wirkung entfaltet, als es aktuell der
Fall ist, wo viele Staaten in Afrika, Südamerika und in Asien den USA
eine scheinheilige Haltung vorwerfen, da sie in der jüngsten
Vergangenheit selber völkerrechtswidrige Kriege geführt habe,
weswegen sich die meisten Staaten in der UN an den westlichen
Sanktionen gegen Moskau nicht beteiligen. Die Kraft der moralischen
Eindeutigkeit hätte sich zum Nachteil Putins noch einmal potenziert,
w e n n a u f s e i n e n B e f e h l d i e K ö p f e d e r u k r a i n i s c h e n
Widerstandsbewegung verschleppt, misshandelt oder gar in einem
Blutbad getötet worden wären. Wohl ist es nicht auszuschließen, dass
auf einen gewaltlosen Widerstand und zivilen Ungehorsam der Ukrainer
seitens des russischen Militärs in der Tat mit Gewalt reagiert worden
wären. Noch weniger auszuschließen ist, dass Teile des ukrainischen
Militärs und der paramilitärisch bewaffneten ukrainischen Nationalisten
die ausgerufene Strategie eines gewaltlosen Widerstandes im Lande
abgelehnt hätten. Angesichts der Gewaltbereitschaft der
Nationalbewegung der Ukraine und der Vorgeschichte ihres
Unabhängigkeitskampfes gegen die Sowjets in den vierziger und
fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts wäre es sicher nicht leicht
gewesen, der Strategie Gandhis auf Seiten der nationalistischen
Ukrainer uneingeschränkte Geltung zukommen zu lassen. Hier aber
wäre es gerade die zivilisatorische Aufgabe der Europäer und der von
ihnen vertretenen Werte gewesen, auf die Ukrainer mässigend
e i n z u w i r k e n u n d s i e n i c h t d u r c h d a s Ve r s p r e c h e n v o n
uneingeschränkten Waffenlieferungen und die sukzessive in die Tat
umgesetzte Zusage dessen noch weiter zu bestärken, durch ein „Auge
um Auge, Zahn um Zahn“ alleine auf die Karte der Gewalt zu setzen.
Hätte Putin hingegen „agents provocateurs“ verwendet, um den
gewaltlosen Widerstand der Ukrainer durch gewaltsame Aktionen zu
diskreditieren, hätten die nachrichtendienstlichen Fähigkeiten der USA
schnell zur Entlarvung derartiger Versuche beitragen können, was den
Kremlherrn weltweit noch mehr in Bedrängnis gebracht hätte.

Das Ziel seines Angriff auf die Ukraine dürfte mit dem Status der
militärischen Bündnislosigkeit, einer Neutralität der Ukraine nach
Schweizer Vorbild erreicht worden sein. Wie der Kriegsverlauf zeigt, ist
die russische Armee zu einer Eroberung weiterer Teile des ehemaligen
sowjetischen Territorien logistisch kaum in der Lage. Noch weniger
wäre der Einmarsch der russischen Armee in die unter dem westlichen Atomschirm stehenden ehemaligen Sowjetrepubliken oder Staaten
Osteuropas, die heute Teil der NATO sind, zu erwarten gewesen. Die
genaue Erforschung der Absichten und Ziele der russischen Führung im
Frühjahr 2022 ist eine Aufgabe, die zukünftigen Historiker zukommen
wird. Eine Veröffentlichung der diplomatischen Initiativen Russlands im
Vorfeld des Einmarsches im Frühjahr 2022 jedoch könnte schon heute
recht deutlichen Aufschluss über die Zielsetzung Moskaus geben.
Daraus dürfte klar werden: Über die Einsetzung einer nicht
moskaufeindlichen Regierung in Kiew wie die Selenskijs, die ihr
abgegebenes Versprechen, für eine Entspannung im Verhältnis der
Ukraine zu Russland zu sorgen, gebrochen hat, wäre Putin wohl kaum
hinaus gegangen. Angesichts des Umstandes, dass selbst der Ex-US-
Außenminister Henry Kissinger unlängst öffentlich einräumte, dass nicht
alle Schuld für den Ukraine-Krieg bei Putin alleine liege3, wäre eine
deeskalierende Strategie des Westens moralisch geboten gewesen,
welche die Unabhängigkeit der Ukraine nicht preisgibt, sondern sie mit
anderen Mitteln als der brutalen Gewalt verteidigt. Nicht nur die
menschlichen und materiellen Opfer in der Ukraine wie indirekt in vielen
Teilen der restlichen Welt wären auf diese Weise weitaus geringer
ausgefallen. Eine über die skizzierten Szenarien hinaus gehende
rücksichtslose russische Aggression gegenüber einem slawischen
Brudervolk, wie wir sie heute erleben, wäre mit allergrößter
Wahrscheinlichkeit auch in Russland überaus unpopulär gewesen und
hätte für Putin zu ernstem Unmut und Protesten in der eigenen
Bevölkerung geführt. Stattdessen ist es Putin – nicht zuletzt mithilfe der
fehlgeleiteten westlichen Reaktion auf seinen Einmarsch – gelungen, die
russische Bevölkerung im Großen und Ganzen hinter sich zu bringen.
Wie sich herausgestellt hat, schaden die vom Westen verhängten
Wirtschaftssanktionen weniger Russland als den europäischen Staaten
selbst; so befindet sich mittlerweile die Eurozone in der Rezession und
die Gefahr einer militärischen Eskalation zwischen den hoch gerüsteten
Seiten steigt in gänzlich unverantwortlicher Weise je länger der Krieg
andauert. Das Risiko, dass ein Dritter Weltkrieg zu einem Ende der
menschlichen Zivilisation insgesamt führen könnte, ist eminent. Daher
ist die vom Westen gewählte Strategie falsch, selbstschädigend und
möglicherweise sogar selbstzerstörerisch.

Hätte man hingegen, in dem spezifischen Fall der Ukraine, wie hier
dargelegt gänzlich anderes reagiert, wäre es im Gegenteil denkbar, dass
der Funke des zivilen Ungehorsams auf Putins mit eiserner Hand
autokratisch geführtes Land übergesprungen wäre. In der Folge seiner
„militärischen Sonderaktion“ in der Ukraine hätte es dann in Moskau
und anderen russischen Städten zu massenhaften Protesten gegen den
Krieg kommen können. Möglich gar, dass die Proteste ein derartiges
Ausmaß angenommen hätten, dass sie zu einem Sturz des ewigen
Autokraten Putin geführt hätten, – eine Kriegsfolge, welche der Westen
wohl kaum ungern gesehen hätte. Aufgrund dieser für Putins Regime
immanenten Gefahr ist es nachvollziehbar, dass eine auf
zivilisatorischer Ebene fortgeschrittenere Reaktionsweise des Westens
nicht nur die weltweite normative Ächtung des Krieges bekräftigt,
sondern auch den Kremlherrn zu einem sehr schnellen Abzug seines
Militärs aus der Ukraine gedrängt hätte.

Bedauerlicherweise ist dies alles nicht geschehen. Vielmehr befindet
sich die Ukraine nunmehr in einer Spirale der Gewalt. Überdies zeichnet
sich dabei eine beunruhigende Parallele zum Ersten Weltkrieg ab:
Sowohl im Frühjahr 2022 als auch im Sommer 1914 herrschte die
Erwartung eines schnellen Sieges vor. Als sich herausstellte, dass die
Erwartungen getrogen hatten und ein Ende des Krieges im Gegenteil
unabsehbar geworden ist, wurden damals wie heute eisern alle
Verhandlungen abgelehnt, den Krieg diplomatisch mit einem
Kompromissfrieden zu beenden4. Sowohl im Ersten Weltkrieg als auch
heute im Ukraine-Krieg setzten sich auf beiden Seiten diejenigen Kräfte
durch, die sich kompromisslos verhielten und nichts anders, als einen
Siegfrieden der eigenen Seite akzeptieren wollten. Doch der Preis für
einen Sieg – das ist geradezu eine Gesetzmäßigkeit des Krieges – wird
immer höher, je länger ein Krieg andauert. Das Ende des Ersten
Weltkrieges sollte alle Verfechter eines Siegfrieden warnen: 1918 war
der Preis für den letztlich vermeintlich errungenen Triumph die faktische
Selbstentmachtung beider Seiten. So sehr die Weltordnung vor dem
Ersten Weltkrieg durch europäische Staaten dominiert wurde, so wenig
Einfluss verblieb nach 1918 für die vermeintlichen Siegermächte
Großbritannien und Frankreich. Stattdessen traten im Verlauf des 20.
Jahrhunderts die USA und nach der Oktoberevolution in Russland die
Sowjetunion ihr Erbe als neue Supermächte an. Dass die aktuellen
Entscheidungsträger in Washington und Brüssel die hier favorisierte
alternative Handlungsoption wohl nicht unbeachtet ließen, schließlich
aber verworfen haben, macht deutlich, in welch verfahrener Lage wir
uns heute – nicht anders als während des Ersten Weltkrieges –
befinden.

Die einzige vernünftige Lehre aus der Geschichte der Weltkriege im 20.
Jahrhundert freilich – darüber sollte kein Zweifel bestehen – kann nur in
dem fortgesetzten Bemühen aller bestehen, Kriege zu ächten. Erst
recht im atomaren Zeitalter. Die Menschheit ist nicht verdammt, die
immer gleichen Fehler zu begehen. Harari ist zuzustimmen: Gewalt und
Krieg sind kein Naturgesetz. Das gilt sowohl für den Einsatz von
Gewalt, als auch für die Frage, wie am besten auf sie zu reagieren ist,
um sie schnellstmöglich zu beenden. Dass Gewalt keine Lösung ist,
wurde in einem in Europa seit dem Mittelalter andauernden langen
zivilisatorischen Prozess im Inneren der Staaten durchgesetzt. Der5
gleiche Imperativ muss auch weiterhin für den zwischenstaatlichen
Bereich gelten.

In seinem berühmten Briefwechsel mit Albert Einstein über das Thema
„Warum Krieg?“ stellte der Begründer der Psychoanalyse Sigmund
Freud 1932 fest, dass Kriege dann enden werden, wenn die Menschen
sie nicht mehr ertragen können. Dies ist – von wenigen Ausnahmen6
abgesehen – für die allermeisten Menschen bereits heute der Fall. Sollte
dies – von den hier besagten Wenigen – nicht berücksichtigt werden, so
dürfte es im Atomzeitalter wohl unweigerlich so kommen, wie Albert
Einstein prophezeite, als er sich 1936 an die „liebe Nachwelt“ mit den
Worten wandte: „Wenn ihr nicht gerechter, friedlicher und überhaupt
vernünftiger sein werdet, als wir sind, bzw. gewesen sind, so soll Euch
der Teufel holen!“

Dr. Michael Carlo Klepsch ist Politikberater, Historiker und Publizist und
lebt in Weimar. Zu seinen Veröffentlichungen zählen u.a.: Romain
Rolland im Ersten Weltkrieg, Ein Intellektueller auf verlorenem Posten,
Stuttgart 2000. Picasso und der Nationalsozialismus, Düsseldorf 2007.

Endnoten:

1 Friedrich Nietzsche: „Goethe ist in der Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall ohne Folgen: wer wäre imstande, in der deutschen Politik der letzten 70 Jahre zum Beispiel ein Stück Goethe
aufzuzeigen!“

2 Howard Gardner, So genial wie Einstein. Schlüssel zum kreativen Denken, Stuttgart 1996, S. 398.

3 Interview Henry Kissinger, in: Die Zeit Nr. 22 v. 25. Mai 2023, S. 3.

4 Michael Klepsch, Romain Rolland im Ersten Weltkrieg. Ein Intellektueller auf verlorenem Posten, Stuttgart 2000.



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