Die interessanteste Publikation des Eulenspiegel-Verlags in diesem Jahr ist ohne Frage Hans Bunges Buch über seine Gespräche mit der langjährigen Mitarbeiterin und Geliebten von Bertold Brecht, Ruth Berlau. Es ist eine überarbeitete und ergänzte Neuauflage der Erstausgabe von 1987, die nach vielen Schwierigkeiten, die Brecht-Erbin Barbara Brecht-Schall machte, auch in der DDR erschien und schnell zum Klassiker für Brecht-Forscher avancierte. Obwohl es in erster Linie von einer ungewöhnlichen Frau handelt, erfährt man viel über den Dichter, dem sie ihr Leben widmete. Brechts Werk ist ohne seine Mitarbeiterinnen undenkbar. Er lieferte die Erstfassung eines jeden Textes, der dann in intensiven Diskussionen weiterentwickelt wurde. Viele Hinweise, Vorschläge, Gedanken, Verbesserungen flossen in Brechts Texte ein. Zwar hat Berlau nicht, wie Elisabeth Hauptmann an der Dreigroschen-Oper, direkt mitgeschrieben, aber da sie neben Weigel und Hauptmann seine langjährigste Beziehung war, steckt viel Berlau in Brecht-Texten.
Schon ihr Leben vor Brecht war bemerkenswert. Geboren wurde sie in eine wohlhabende dänische Familie. Nach dem Selbstmordversuch ihrer Mutter und der darauf folgenden Trennung von ihrem Vater, musste die mit großer Schönheit gesegnete Berlau für ihre Familie sorgen. Sie zog einen florierenden Kaffeeverkauf auf, der sie wirtschaftlich unabhängig machte. Als sie keine Neigung mehr dazu spürte, bot sie einer Zeitung an, mit dem Fahrrad von Kopenhagen nach Paris zu fahren und von ihren Abenteuern unterwegs zu berichten. Da die Fahrt aber „stinklangweilig“ wurde, erfand sie ihre Abenteuergeschichten einfach. Das Publikum war von der Serie begeistert. Als sie ihre Rückkehr ankündigte, warteten hunderte Menschen auf dem angegebenen Platz, um Berlau zu begrüßen. Danach war sie in Dänemark eine bekannte Person. Sie wurde Kommunistin und gründete zur Unterstützung der Arbeiter ein Laientheater, dem sie viel Zeit und Kraft widmete. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie als Journalistin und als Schauspielerin am Königlichen Theater. Nach der Heirat mit dem wohlhabenden und angesehenen Arzt Robert Lund gehörte sie endgültig zum dänischen Establishment.
Sie begegnete Brecht 1933, als der mit Familie vor den Nazis nach Dänemark floh. Sie verliebte sich sofort in den Dichter, erst später in den Mann. Es dauert zwei Jahre bis zum ersten Kuss. Sie verließ Ehemann und Heimat, um Brecht ins Exil zu folgen. Es machte sie glücklich, für ihn arbeiten zu können. Sie ließ sich dafür regelrecht ausbeuten. Einmal wollte Brecht unbedingt mit ihr im tiefsten Winter in ihr Landahaus fahren. Sie kamen dort an und Berlau begann, Holz zu hacken, den Ofen anzuheizen, Schnee für Brechts Tee aufzutauen. Er half ihr nicht dabei, beschwerte sich aber, als sie fertig war, sie hätte ihm das Gefühl vermittelt, sie auszubeuten.
Sie fuhr für ihn in den Spanien-Krieg, weil Becht, der selbst jeder Gefahr aus dem Weg ging, Nachrichten von der Front brauchte. Er tadelte sie, weil sie nicht die richtigen Meldungen mitbrachte.
Berlau musste sich auch um die anderen Geliebten von Brecht kümmern. Margarethe Steffin, die er auch aufgefordert hatte, ihm ins Exil zu folgen, wohnte eine Zeitlang bei Berlau. Obwohl sie da schon Tuberkulose hatte, an der sie später starb, kümmerte Steffin sich nicht um ihre Heilung, denn Brecht brauchte sie, um seine abendlichen Gespräche mit seinen Besuchern mitzustenografieren. Einmal, als es Steffin besonders schlecht ging, wurde sie gegen seinen Willen („Ich brauche sie“) von Robert Lund ins Krankenhaus gebracht.
Der Brecht-Tross zog von Dänemark über Schweden und Finnland in die Sowjetunion, um in Wladiwostok ein Schiff nach Amerika zu besteigen. Als Er in Moskau ankam, wurde Brecht ein Empfang bereitet. Seine „große Verliebtheit“ Carola Neher saß da schon mehrere Wochen in der Ljubljanka. Berlau behauptet, Brecht habe sich einmal bei einem sowjetischen Beamten nach ihrem Schicksal erkundigt. Er scheint sich mit der Auskunft, Neher würde auch im Gefängnis Theater spielen, zufrieden gegeben zu haben. Auch zum Schicksal vieler Kommunisten, die im stalinschen Gulag verschwanden und zum Teil nie wieder auftauchten, findet sich bei Berlau nichts. Kritik an Stalin war bei Brecht verboten. Der wunderbare Schauspieler Alexander Granach, der das erste Haus für die Brecht-Familie in Amerika gemietet hatte, wurde in Acht und Bann getan, weil er in dem antistalinistischen Film „Ninotschka“ mitgespielt hatte. Er bekam nie wieder eine Chance.
Berlau sagt nichts darüber, was die Enthüllungen der stalinistischen Verbrechen bei ihr bewirkt haben.
Berlau machte in ihrem Leben mehrere erfolglose Versuche, ihr eigenes Leben zu führen. Nach einem Jahr in Santa Monica in Brechts Nähe, zog sie gegen seinen Willen nach New York, wo sie bald Mitarbeiterin eines Senders wurde, der für die besetzten Länder in Europa Programme machte. Sie konnte nicht anders, sie brachte Sendungen mit Brecht unter, obwohl der sich für Radiosendungen schlecht eignete. Sie konnte auch nie aufhören, sich für seine Arbeit einspannen zu lassen.
Ihre finanziellen Verhältnisse erlaubten es ihr, eine Wohnung zu mieten, in der auch ein Zimmer für Brecht eigerichtet wurde. Brecht zog ein, verlangte aber sofort das größere Zimmer für sich. In den Monaten, die sie mit Brecht verbrachte, wurde Berlau schwanger. Angeblich soll sich Brecht gefreut haben, aber er wollte nicht, dass Berlaus Schwangerschaft in Santa Monica bekannt wurde. Das Kind kam als Frühgeburt auf die Welt und lebte nur vier Tage. Brecht notierte in seinem Journal, Berlau sei „operiert“ worden. Für Berlau war der Tod des Kindes ein traumatisches Erlebnis, aber Brechts Kälte tötete ihre Liebe zu ihm nicht.
Brecht legte größten Wert auf seinen Nachruhm. Was über ihn in 50 Jahren gedacht würde, war ihm unendlich wichtig. Deshalb wollte er möglichst viele Aufführungen seiner Stücke dokumentieren. Berlau lernte fotografieren, um bei Proben und Aufführungen Fotos zu machen. Brecht erwartete, dass diese Fotos am nächsten Vormittag auf seinem Tisch lägen. Also schlug sich Berlau die Nächte um die Ohren, um die Fotos zu entwickeln. Von vielen Stücken Brechts wurden Modell-Bücher angelegt, die jede Szene dokumentierten. Als Brecht wieder in Deutschland war, wurden solche Bücher an die Theater verschickt, die ein Brecht-Stück inszenierten. Angeblich sollten sie nur Anregung sein, aber nach Brechts Tod verlangte Barbara Brecht-Schall, dass die Stücke möglichst originalgetreu aufgeführt würden. Sie führte Prozesse gegen Regisseure wie Frank Castorf, die zu frei mit Brechts Text umgingen.
Um Brechts Nachruhm zu sichern wollte er unbedingt ein eigenes Archiv aufbauen. Das übernahm Berlau, obwohl sie eher ungeeignet für Archivarbeit war und daran keine Freude hatte. In der Berliner Zeit lebte sie in der Charitéstraße, in der Nähe des Berliner Ensembles. Anfangs kam Brecht regelmäßig zu Ihr, um Mittag zu essen und anschließend zu ruhen. Sie muss sich erhofft haben, dass Ihr Verhältnis in die ersehnte Ehe mündet. Die Weigel dachte offenbar in dieselbe Richtung und drohte mit Scheidung. Brecht entschied sich für seine Frau und nahm sein Mittagessen fortan bei der Weigel ein.
Für Berlau war es ein Schock, von dem sie sich nicht mehr erholte. Sie verursachte Skandale und andere Ärgernisse, machte gar einen Selbstmordversuch, um Brechts Aufmerksamkeit zu erhalten. Das kam weder beim Meister, noch bei seinem Clan gut an. Brecht versuchte, sie nach Kopenhagen abzuschieben, indem er ihr dort ein Haus kaufte. Es klappte nicht. Trotz aller Scherereien genoss Berlau eine Art Schutz, solange Brecht lebte. Er ließ sie lediglich ab und zu in die Psychiatrie einwiesen. Nach seinem Tod überwarf sie sich endgültig mit der Weigel und bekam Hausverbot im Berliner Ensemble. Sie wurde von allen Freunden verlassen und lebte in den letzten Jahren sehr isoliert.
Im Alter scheint sie mit Verbitterung auf ihre Jahre mit Brecht zurückgeblickt haben. Er hätte sie stets „wie Dreck“ behandelt. Er hätte ihr 16 Jahre verboten, zu lächeln („Dein Hurenlächeln“). Sie fragte sich, was aus ihr hätte werden können, wenn sie sich für einen anderen Weg entschieden hätte. Robert Lund, als sie sich von ihm trennte, sagte: „Du bist doch keine zweite Geige“. Er hat Recht behalten, denn Berlau ist als zweite Geige gescheitert.
Während ich das Buch las, fragte ich mich mehr als einmal, was von Brecht heute geblieben ist.
Natürlich die „Dreigroschenoper“, bei der man aber als Schöpfer Hauptmann, Brecht und Weil nennen müsste und die vor allem wegen ihrer Musik ein Welterfolg geworden ist. „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“. Die Keuner-Geschichten?
Der große Literaturkenner Marcel Reich-Ranicki war der Meinung, von Brecht blieben nur seine Liebesgedichte.
Eins der eindrücklichsten lautet:
Schwächen
Du hattest keine.
Ich hatte eine:
Ich liebte
Dies schreib nicht Brecht, sondern Ruth Berlau
„Brechts Lai-Tu“, Eulenspeigel Verlag 2023