Deindustrialisierung in Deutschland am Beispiel der Erdölraffinerie Schwedt

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Von Gastautor Helmut Roewer

Billiges russisches Öl war der Nährstoff für die Erdölraffinerie Schwedt. Nach dem Aus für die Öllieferung soll das Unternehmen jetzt „entrussifiziert“ werden, jedenfalls fordert das die polnische Regierung
Jetzt will die Bundesregierung den Weg frei machen, um den russischen Einfluss auf die PCK-Raffinerie in Schwedt zu beenden. Das soll eine Reform des Energiesicherungsgesetzes (EnSiG) bewirken. Künftig soll es erlaubt sein, Anteile von Unternehmen, die unter Treuhand-Verwaltung stehen, zu verkaufen. Bislang hält der russische Energiekonzern Rosneft über seine deutschen Töchter rund 54 Prozent an der Raffinerie. Um den russischen Einfluss auf das operative Geschäft auszuschließen, wurden diese Unternehmen im September unter Treuhand-Verwaltung durch die Bundesnetzagentur gestellt.

Nach dem freiwilligen Verzicht auf russisches Rohöl laufen die Anlagen nur mit geringer Auslastung, ein wirtschaftlicher Betrieb ist kaum mehr möglich.

Schwedt ist das Menetekel der Wirtschaftsstandorts Deutschland
Wie das aussieht, beschreibt mein Gastautor Helmut Roewer:
Reise in eine östliche Randlage – einige Bemerkungen über den Öl-Standort Schwedt und das Verscherbeln von Volksvermögen im großen Stil

Man kann sicher sagen, dass es nicht gerade auf der Hand liegt, an einem nasskalten Samstag mit dem Auto die 400 Kilometer von Schilda nach Schwedt an der Oder zu fahren. Doch ich wollte diese Stadt einmal aus der Nähe sehen, die letztes Jahr zum ersten Mal in mein Bewusstsein vordrang, als ich mir über die Konsequenzen des Russland-Boykotts mainstream-freie Gedanken machte.

Ein untrügliches Zeichen, dass man sich dem angepeilten Ort nähert, sind schließlich die Rauchwolken am Himmel, die rund 8 Kilometer vor dem Ziel aus den Nadelwäldern emporwachsen. Kommt man näher, sieht man die ewige Gasflamme über dem Komplex tänzeln. Sie gehören zur Erdöl-Raffinerie PCK, der, wie eingangs gesagt, meine Neugierde seit einiger Zeit gilt. Wenn man also vom Westen kommend nach Schwedt mit dem Auto vordringt, passiert man zunächst die unerwartet weitläufigen Industrieanlagen, bevor man in die eigentliche Stadt eindringt. Schwedt hat keine Plattenbausiedlung, sondern es ist eine. Sie ist in der Mitte durch die Ost-West-Verkehrsachse geteilt. In dieser Stadt kann man sich dank der denkbar unkomplizierten geraden und breiten Straßen kaum verfahren.
Von dieser neugebauten Stadt kann man kaum viel Sensationelles sagen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten hier um die 9.000 Einwohner. Es gab einen Bahnhof und ein Amtsgericht. Bemerkenswert immerhin war ein Gewerbezweig, der etliche der Bürger zu ernähren vermochte: Man baute Tabak an und verarbeitete ihn sodann.

Die einschlägige Kunst war von hugenottischen Einwanderern mitgebracht worden, deren Zuzug nach Preußen durch den Großen Kurfürsten 1685 nach dem Edikt von Potsdam genehmigt und alsbald gefördert worden war, denn sie brachten aus Frankreich, von wo sie dank katholischer Intoleranz im 17. Jahrhundert vertrieben worden waren, Gedanken und Fertigkeiten mit, die man im rückständigen und bevölkerungsarmen Preußen brauchen konnte – auch ein wenig Lebensart. Die Tabakindustrie von Schwedt hielt sich bis 1990. Dann wurde sie, wie man damals roh formulierte, abgewickelt. Auf das Problem werden wir gleich noch einmal zu sprechen kommen müssen.

Von der Stadt Schwedt war nach dem Zweiten Weltkrieg nichts mehr übrig, was der Erwähnung wert gewesen wäre. Aus der alten Bausubstanz hatten vielleicht zwei Dutzend Häuser überlebt, von den barocken Gebäuden genau eines (in Worten: eins).

Blick aus dem Hotel-Fenster: Die Innenstadt von Schwedt heute, im Hintergrund (Mitte) das einzige barocke Gebäude der Stadt, das dem Sturm von 1945 widerstanden hat, das Oval des Berlischky-Pavillons von 1779.

Ende der 1950er Jahre kam erneut Leben in die Wüstenei. Die Wirtschaftsfunktionäre des Comecon, der Wirtschaftsplan-Organisation des Ostblocks, hatten beschlossen, eine Öl-Pipeline aus den Erdölgebieten der Sowjetunion nach Westen zu bauen, aus der die Vasallen, einschließlich der DDR, versorgt werden sollten. So nahm das Projekt Drushba (Дружба – Freundschaft) seinen Lauf.

Die DDR-Führung machte Nägel mit Köpfen, indem sie anordnete, dass gleich hinter dem Oderübergang der Pipeline bei Schwedt eine Raffinerie zu errichten sei. So entstand das Großprojekt PCK. Die Erzählungen, die ich mir hierüber angehört habe, schwankten zwischen Stolz auf das Erreichte und dem Ärger über die Entbehrungen, denn zunächst gab es an Ort und Stelle nichts, was lebenswert gewesen wäre. Lediglich an Parolen und Ruinen war kein Mangel. Die weitgehend Zwangsrekrutierten arbeiten unter wenig erbaulichen Bedingungen. Das Leben fand auf der Baustelle und in Barackenunterkünften statt.

Allmählich entstand die Stadt aus der Retorte, die man auch heute noch besichtigen kann – eine Betonstadt, deren rauer Charme aus der Weitläufigkeit der Wohnanlagen herrührt. Die Platten brauchen Abstände, sonst ist das Ghetto da, ehe man sich’s versieht. Hier in Schwedt kommt neben der günstigen planerischen Grundbedingung hinzu, dass die Platten offenbar gründlich und so weit wie möglich freundlich saniert wurden. Das wurde nur möglich, da im Jahre 1990 nicht das Licht ausgemacht wurde. Die PCK nahm ihren Weg in die Moderne.

Anders als bei der Tabaks-Industrie war für die Ölraffinerie von Schwedt nicht das große Aus auf dem Plan der Wende-Heroen. Ich weiß nicht genau, ob ich hier eine Kriminal-Geschichte oder eine solche von gigantischer Inkompetenz erzählen sollte. Denn zunächst einmal schien im Verlauf der 1990er Jahre für die DDR-Erdöl-Industrie der Wandel in die Jetzt-Zeit geglückt. Die sog. Umstrukturierung betraf – miteinander zusammenhängend – sowohl die Raffinerie in Schwedt, wie auch das Chemie-Dreieck von Halle-Bitterfeld, und, nicht zu vergessen, das DDR-Tankstellennetz von Minol.

Hier gab es einiges Gerangel, denn das Vorhandene versprach – nach Beseitigung der Hinterlassenschaften einer maroden Wirtschaft, die jahrelang auf Teufel komm raus aus der Substanz gezehrt hatte – wieder zu einer respektablen Größe wachsen zu können. Hier war ein Industriezweig, dessen Produkte in einer 16-Millonen-Land unverzichtbar waren: Sprit für die Autos, Heizöl für die Heizungen und Öl als chemisches Grundprodukt für alles Mögliche. Es war, um das zu wiederholen, zunächst viel Geld in die einschlägigen Anlagen zu pumpen, um sie auf Vordermann zu bringen.
Doch die Entscheidung, die man in Bundesregierung und ihrer Treuhandanstalt traf, den Kern der ostdeutschen petrochemischen Industrie nach Frankreich zu verscherbeln, wirkt in der Rückschau geradezu laienhaft naiv – falls nicht kriminelle Energie am Platze war. Ich mag mich nicht zum literarischen Ankläger aufschwingen, der schon immer alles besser gewusst haben will, aber ein wenig kratzen sollte man an den getroffenen Entscheidungen schon.

Die Energieversorgung war für das Industrieland Deutschland seit dem Beginn seiner ernsthaften Industrialisierung das Zentralproblem von wahrhaft nationaler Tragweite. Das galt zunächst einmal für die Beschaffung von Energieträgern, von denen Deutschland nur bei der Kohle bemerkenswerte eigene Reserven hatte. Schon beim Öl war dies anders. Deutschland war von Lieferanten zu 100 Prozent abhängig. Deswegen war deutsche Wirtschaftspolitik sich lange Zeit über einig darin, dass die Verarbeitung des Öls im eigenen Lande stattzufinden habe, um nicht weitere, nicht unbedingt notwendige Auslands-Abhängigkeit zu schaffen.
Gegen diesen Grundsatz wurde im Taumel des Wiedervereinigungs-Prozesses leichtfertig verstoßen. Den Zuschlag der Öl-verarbeitenden Industrie und die zugehörigen Handelsketten an ein französisches Öl-Konsortium, die Elf-Aquitaine (heute: TotalEnergies) zu erteilen, war nach den gerade erwähnten wirtschaftspolitischen Grundsätzen eine Fehlentscheidung. Bei der französischen Großindustrie muss man stets die Tatsache im Hinterkopf miterwägen, dass der französische Staat in nahezu allen Sparten eine eigentümerähnliche Stellung behauptet, also stets das letzte Wort hat.

Man mag meiner Kritik entgegenhalten, dass man die Öl-Entscheidung im Licht der deutsch-französischen Freundschaft damals hätte beurteilen dürfen. Doch genau im selben Zeitpunkt hatte sich gezeigt, was diese Freundschaft wert war: nichts, denn ebendiese französischen Freunde versuchten mit allen gebotenen Mitteln die deutsche Einheit zu verhindern.
Die Fehlentscheidung von Schwedt schien 30 Jahre lang keine Folgen zu haben, doch im Frühjahr 2022 wurde alles anders. Russlands militärisches Eingreifen im Donbass löste nach US-amerikanischer Aufforderung eine Orgie von Wirtschaftssanktionen aus, an denen sich fast alle europäischen Staaten beteiligten. Über die mit Russen-Öl betriebene Raffinerie in Schwedt äußerte sich bereits im Frühjahr 2022 die französische Firmenleitung des Haupteigentümers Elf-Aquitaine (TotalEnergies). Ich rücke an dieser Stelle die Notizen aus meinem Sudelbuch ein. Sie zeigen, nicht nur, was passierte, sondern auch wie die für Deutschland katastrophale Entwicklung Stück um Stück in mein Bewusstsein vordrang.

26. März 2022

Der französische Energiekonzern Elf-Aquitaine kündigt an, die russische Öl-Pipeline, an deren deutschen Spundloch er sitzt, zum Jahresende dicht zu machen. Das dürfte das Aus für das Chemiedreieck Leuna bedeuten. Hier wird eine Krise mit der Brechstange herbeigeführt.

Leuna (2): Der Anhaltinische Ministerpräsident, ein Herr Haseloff, sieht – falls die Postillen das richtig wiedergeben – hierdurch die Versorgung der Bevölkerung nicht gefährdet. Produktion und Arbeitsplätze spielen im Lande Wünsch-dir-was offensichtlich keine Rolle. Soviel Stuss hätte auch Erich Honecker von sich geben können.

Leuna (3): Jetzt haben wir es den Russen aber gegeben. Kriegen ihr Öl nicht mehr los bei uns.

Leuna (4): Am besten gefällt mir der Vorschlag, dass, wenn wir wirklich Öl brauchen sollten, wir dieses statt durch die Pipeline durch Tanker, die in Danzig gelöscht werden sollen, beziehen mögen. Dass zu einem Wirtschaftsstandort auch dessen Wirtschaftlichkeit gehört, entzieht sich den Vertretern der Plapperökonomie.

11. Mai 2022

Der Klimatiker Robert H. versucht in Schwedt an der Oder die aufgebrachten Leute wegen der russischen Ölpipeline, deren deutsches Endstück von den französischen Eigentümern am Jahresende dicht gemacht werden soll, zu beschwichtigen. Woran denkt der Mann aus Berlin? Zwangsverwaltung? Enteignung zugunsten des Bundes? Übung hat er ja mittlerweile mit der deutschen Gazprom-Tochter Germania.

18. September 2022

Ölhahn zu: Die Bundesregierung dreht weiter an der Energieschraube. Jetzt ist ihr die Treuhandverwaltung (sprich Enteignung) des russischen Ölkonzerns Rosneft eingefallen. Dieser ist Miteigentümer der bedeutenden Raffinerien in Deutschland. Man darf nun stündlich erwarten, dass Russland die Ölzufuhr über die Pipeline Drushba nach Schwedt an der Oder beendet.

Ölhahn zu (2): Deutsche Windstrom-Barone wollen die Raffinerie-Anteile von Schwedt erwerben, um, wie sie verkünden, den Menschen der Region eine Perspektive zu eröffnen (vermutlich durch den Aufbau von Hamsterrädern zu Stromerzeugung). Gleichzeitig spricht der Klimaminister von der günstigen CO2-Bilanz. Zynischer geht es kaum.

Ölhahn zu – Nebenkriegsschauplatz: Polen will die Anlage von Schwedt übernehmen, aber nur, wenn Deutschland dem russischen Öl abschwört. Man könne, das benötigte Öl aus Danzig und Rostock anliefern. Wusste gar nicht, dass dort bedeutende Ölfunde angefallen sind. Es fällt schwer, nicht an die auftrumpfende polnische Politik der Jahre 1938/39 erinnert zu werden.

6. Oktober 2022

Die Idee [des Ölpreisdeckels] ist älter als der gestrige EU-Beschluss. Sie mündete in die Entscheidung der französischen Elf Aquitaine ein, den Russen ab dem kommenden Jahreswechsel kein Öl, das durch die Pipeline Drushba nach Schwedt an der Oder gepumpt wird, mehr abzunehmen. Einer unüberprüfbaren Internetmeldung entnehme ich, dass die hiervon abhängige Leuna begonnen hat, ihren Betrieb runterzufahren. Ich lasse das mal im Raum stehen, denn es ist einen eigenen Aufsatz wert.

Aufprall in der Gegenwart: Es sieht ganz so aus, als sei das Spundloch der Pipeline Drushba am 1. Januar 2023 dichtgemacht worden. Erneut gebe ich meine Sudelbuch-Notate wider:

12. Januar 2023

Die Mineralölraffinerie Oberrhein (MiRO) in Karlsruhe ist die größte ihrer Art in Deutschland. Sie reduziert seit Jahresbeginn wg. des nicht mehr angelieferten Russenöls ihre Produktion. Offenbar drastisch. Das ist gut und schlecht zugleich. Schlecht ist, dass jetzt Benzin und Heizöl nicht mehr ausreichend produziert werden, um den gewohnten Bedarf zu decken. Gut ist, dass die Konsequenzen des Wirtschaftskriegs gegen Russland jetzt auch den Wohlstandsbürger im Westen Deutschlands erreichen, den es bislang nicht gejuckt hat, dass seit Monaten aus Schwedt an der Oder, dem zweiten großen Raffinerie-Standort in D, eindringliche Warnrufe laut wurden. – Schwedt, wo ist das denn? Dort wurde pünktlich zum Jahreswechsel, ganz so als sei das ein unabwendbares Naturereignis, die Pipeline Drushba abgeklemmt.

Wirtschaftskrieg (2): Selbstverstümmelung wird bei allen kriegführenden Nationen drastisch bestraft. Doch neu ist, wenn der Kriegführende selbst zu solchen Maßnahmen greift. Das geht mir durch den Kopf, als ich die Siegesmeldung des Bundespresseamtes vom 6. Januar lese.

21. Januar 2023

Die Skyline der PCK-Raffinerie bei Schwedt an der Oder taucht plötzlich aus dem Morgennebel über dem Nadelwald auf. Die Schlote rauchen noch und eine Gasflamme tänzelt über der Szenerie. Der Ort hingegen wirkt wie ausgestorben, Samstagmittag im Oderbruch.

©Helmut Roewer, Februar 2023



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