Gestern Abend war ich zu träge, „The Trial of Socrates“ von I.F.Stone, ein philosophischer Politthriller, weiterzulesen, also schaltete ich nach längerer Zeit mal wieder den Fernseher an. Die öffentlich-rechtlichen Sender ignoriere ich schon lange, also bleibt Netflix. Beim Durchzappen blieb ich an „Gray Man“ hängen. Angeblich die teuerste Netflix-Produktion aller Zeiten, Nummer eins in dutzenden Ländern, prominnet in Deutschland. Warum nicht einmal ansehen, was die Zeitgenossen bevorzugen?
Szene eins spielt in Floridas Hochsicherheitsgefängnis. Ein junger Brudermörder sitzt einem CIA-Agenten gegenüber, der ihm anbietet, ihn sofort aus dem Gefängnis herauszuholen, wenn er sich von der CIA als Spezial-Killer ausbilden lässt und der Agency lebenslang dient. Der Gefangene, dessen Ähnlichkeit mit Ryan Gosling mich verblüffte, konterte mit der Frage, woher der CIA-Mann wisse, dass er je wieder töten wolle. Das sähe er ihm an, war die Antwort.
Achtzehn Jahre später sehen wir den Killer, der inzwischen 6 heißt, in Bangkok, wo er mitten in einer Party einen angeblichen Hochverräter beseitigen soll. Das klappt nicht gleich, weil ein Kind in der Schusslinie steht, das der Killer zur großen Verärgerung des Chefs in der Zentrale, Charmichael (Regé-Jean Page), nicht umbringen will. Da weiß man schon, wer der eigentliche Böse ist.
Es beginnt eine Massenschlägerei, an der sich auch die überaus attraktive CIA-Überwacherin (Ana de Armas) vor Ort beteiligt. Am Ende stehen sich 6 und der Hochverräter allein gegenüber. Letzterer outet sich als Mitglied 5 der „Sierra Group“, der auch 6 angehört. „Das wird Dich nicht davon abhalten, mich zu töten“. „Ich glaube nicht“. Diesem an Banalität kaum zu übertreffenden Dialog folgt der finale Kampf, der mit dem Sterben von 5 endet. Vor dem Tod übergibt 5 seinem Mörder ein Amulett und drängt ihn, sich anzusehen, was es enthält. Was ihn bewegt anzunehmen, dass 6 das tun wird, bleibt offen. Die schöne Agentin erscheint auf der Bildfläche, 6 tritt ab. Bei der Durchsuchung von 5 stellt sich heraus, dass das Gesuchte nicht mehr da ist.
Ab sofort wird die Jagd auf 6 eröffnet. Zum Jäger wurde der freischaffende Killer und Folterer Loyd Hansen erkoren, der von der CIA wegen seiner unkontrollierbaren Brutalität gefeuert wurde. Moment mal, der sieht ja aus wie der Klasse-Schauspieler Chris Evans? Was hat der in dieser Klamotte zu suchen?
Fitzroy, der Ausbilder der Sierra-Gruppe (Billy Bob Thornton) ist pensioniert und sitzt merkwürdigerweise in Baku (Aserbaidschan) mit seiner herzkranken Nichte Claire (Julia Butters), die von Loyd Hansen aber bereits entführt worden ist, während Fitzroy einen alten Kumpel beerdigte. Es folgen ein spektakulärer Flugzeugabsurz mit 6 als einzigem Überklebenden, Explosionen und Schießereien in Wien und Prag, die 6 und die mit ihm mittlerweile verbündete attraktive Agentin fast ohne Kratzer überstehen. Allerdings ist 6 das Amulett beim Kampf gegen einen tamilischen Freelancer aus der Hansen-Truppe abhandengekommen. Bleibt nur noch, die entführte Nichte zu befreien.
Wo sie ist, kann mit Hilfe des Codes ihres Herzschrittmachers herausgefunden werden. In einem Schloss in Kroatien. Die Agentin und 6 düsen los. Im Schlosspark kommt es zu einer Begegnung von 6 und Hansen. 6: „Ich konnte Dich gleich nicht leiden“. Hansen: „Da haben wir etwas gemeinsam“. Solche Banalitäten durchziehen alle Filmdialoge.
Daran ändert sich auch nichts, als in einer Folterszene Artur Schopenhauer, der sich freilich nicht mehr wehren kann, zitiert wird.
Claire wird im ersten Anlauf von 6 befreit, gerät aber wieder in die Hände von Hansen, der eben einen Handgranatenwurf von Fitzroy überlebt hat. Da ist der Zuschauer bereits genervt, muss aber noch ein weiteres Handgemenge von 6 und Hansen über sich ergehen lassen während er sich mit wachsender Verzweiflung fragt, warum die Scharfschützin, die Hansen vor der Linse hat, dem nicht ein Ende macht. Nein, der finale Schuss kommt von einer Agentin aus der Zentrale, die Hansen erledigt und 6, sowie seine Komplizin abführen lässt und Claire in Gewahrsam nimmt. Also muss das Mädchen noch einmal befreit werden, diesmal aus den Fängen der CIA, was 6 natürlich gelingt.
„Und darum wird beim happy-end im Film jewöhnlich abjeblend“, fällt mit spontan Tucholsky ein. Aber was aus der grauen Maus 6 wird, könnte Gegenstand eines zweiten Films sein, vor dem uns ein höheres Wesen beschützen möge. Nein, nicht nötig, man muss „Gray man 2“ ja nicht anschalten.
Im Abspann sehe ich plötzlich, dass 6 nicht nur Ryan Gosling verblüffend ähnlich sieht, sondern es tatsächlich selbst war.
Bleibt die Frage aller Fragen, was Weltklasse-Schauspieler wie Gosling und Evans bewegt hat, bei einem solchen Schmarren mitzuwirken.