Alexander Demandt zum 85. Geburtstag
Von Gastautor S.F.
Alte Geschichte und ihre translatio für das hic et nunc lebendig werden zu lassen, die Universalgeschichte mit Schwerpunkt auf die römische Spätantike immer wieder von wechselnden Standpunkten neu zu betrachten und damit zu entdecken, so lässt sich das umfassende Lebenswerk des Alt- und Kulturhistorikers sowie Geschichtsphilosophen Alexander Demandt umreißen.
Eines ist nämlich Geschichte bei Demandt nie: langweilig – und damit auch nie politisch korrekt. Wo andere betreten schweigen, lavieren, führt die Feder des Altmeisters einen derart nüchtern, akribisch und stilsicher durch die Materie, dass es Ernst Jünger eine Freude wäre. Und man spürt es deutlich: die Begeisterung, seine große, heterogene Leserschaft heraus- und zum Beschreiten neuer Pfade aufzufordern, ja zu provozieren, bereitet ihm eine diebische Freude. Wer pharisäerhaft im Ohrensessel fernab des wirklichen Lebens in einer „heilen, besseren alten Zeit“ sein Exil finden möchte, wird bei und mit Demandt nicht glücklich. Obszöne Schmierereien, zügellose Vielweiberei, sexuelle Orgien, Homosexualität, Tätowierungen als ein aufkommendes Massenphänomen genüsslich wird in seinem Standardwerk über die „Geschichte der Spätantike“ anhand tausender Originalquellen kein Detail jener Epoche ausgelassen.
Die Frage „Was wäre gewesen, wenn…“ stellt sich vermutlich jeder an der Geschichte Interessierte eines Tages. In Frankreich populär, in Deutschland jedoch verpönt, wagt sich Demandt mit der ihm eigenen Leichtigkeit des Umgangs mit Quellenreichtum an die contrafaktorische Geschichtsschreibung, um Fragen zu beantworten, wie „Was wäre gewesen, wenn Pontius Pilatus Jesus von Nazareth freigesprochen hätte?“ und „Was wäre gewesen, wenn Stauffenbergs Hitler-Attentat erfolgreich gewesen wäre?“. „Es hätte auch anders kommen können“ lautet daher seine Quintessenz, die zugleich der Zwangsläufigkeit der Geschichte im Sinne der marxistisch beeinflussten Schulen vehement widerspricht und die Bedeutung der Ereignisgeschichte unterstreicht. Sie verkündet vielmehr tröstlich, dass eben doch „Große Männer große Taten in der Geschichte vollbringen – und versagen!“. Zugleich muss niemand zum einsamen, solitären Waldgänger werden, um sich zeitlich gesehen, dem Automatismus zu widersetzen und dessen ethische Konsequenz, den Fatalismus, nicht zu ziehen zu gedenken. Der Wald ist reich an Individuen und die Bedeutsamkeit der individuellen Tat ein oft unterschätztes historisches Faktum.
Über den Wald und seine mystische Bedeutung für die Deutschen und die Romantik sind bereits mehrere Habilitationen erschienen. Dem Geschichtsphilosophen Demandt interessiert jedoch mehr der individuelle Baum. „Über allen Wipfeln“ wird der Leser eingeladen in die Tiefen der „Kulturgeschichte der Deutschen“ einzutauchen und pars pro toto zu sinnieren, was für Klopstocks majestätisch-martialische Eiche und was für Hagens unverwundbare, biegsame Linde als Baum der Deutschen spricht.
Alexander Demandt, dessen Vater auf der pazifischen Insel Soma zu Zeiten der deutschen Schutzherrschaft das Licht der Welt erblickte und später als hessischer Landesarchivar zu Bedeutung gelangte, versteht es, einen weiten Bogen zu spannen. Dabei wird der Leser mitgenommen auf eine Reise durch die „Geschichte der Zeit“ und der „Grenzen“ (dem metaphysischen Wunsch seines Verlegers, sich der „Geschichte des Raumes“ zu widmen, musste widersprochen werden und verlangte der historisch fassbareren Eingrenzung) und – wenn schon, denn schon – der „Weltgeschichte“ des Planeten Erde.
Neben diesen universalgeschichtlichen Werken gilt Demandts großes Interesse der Personengeschichte, da Geschichte nie abstrakt ist, sondern letztlich immer von Individuen gemacht wird; abhängig von chronos und kairon. Seine Biographien über Alexander den Großen, Pontius Pilatus und Marc Aurel sind Alterswerke und alle nach der Emeritierung entstanden. Dabei darf angenommen werden, dass die gewonnene Mehr-Zeit im Unruhestand mit seiner Frau Barbara, einer versierten Ägyptologin und Historikerin, sich ausgesprochen positiv auf Demandts äußerst umfangreiches Schaffen auswirken.
Ist Alexander Demandt ein konservativer Historiker?
Bezogen auf das tagespolitische Geschäft und parteipolitische oder gar ideologische Strömungen würde der Altmeister der Geschichtsschreibung diese Einordnung vermutlich zurückweisen. Geschichte anhand von „materiellen Hinterlassenschaften“ zu deuten, um festzustellen, „wie es eigentlich gewesen ist“, in dieser Tradition und mit einer ähnlichen Bedeutung wie der des Geschichtsverständnisses Leopold von Rankes ist Alexander Demandt als Historiker zu verorten.
Bei der feierlichen Eröffnung der Bibliothek des Konservatismus im November 2012 beleuchtete Demandt kritisch die Frage „Oswald Spengler, ein konservativer Denker?“ und kommt am Ende seines viel beachteten Vortrages zum Schluss:
„Eine konservative Grundhaltung kann heute nicht mehr, aber auch nicht weniger bedeuten als die Aufforderung, dem unvermeidlichen und im allgemeinen begrüßenswerten Wandel der Zeiten nicht mehr an unersetzlichem Kulturgut und an lebensnotwendigen Naturschätzen zu opfern als unbedingt erforderlich ist. Einen wirksameren Schutz überlieferter Güter sind wir unseren Enkeln schuldig. Denn wir verdanken der Vergangenheit mehr als wir der Zukunft hinterlassen. …
Strittig kann nicht das konservative Prinzip als solches sein, sondern nur seine Anwendung, nur die Politik; nicht die Theorie, sondern allein die Praxis. Hier wie allezeit muss mit Bedacht abgewogen und von Fall zu Fall entschieden werden, wenn die Politik eine conservatrix humanitatis sein soll.“
Drei Jahre später auf dem Höhepunkt der Migrationskrise im Herbst 2015 geriet Alexander Demandt ungewollt in den Fokus der politischen Debatte. Was war passiert?
Das Magazin der Konrad-Adenauer-Stiftung bat den Althistoriker um einen Aufsatz zu den Migrationsströmen der Spätantike. Geliefert wie bestellt folgte eine gewohnt fundierte Ausarbeitung zum Thema. Allerdings behagten die Parallelitäten und anschaulichen Formulierungen über die spätantiken Zuwanderungswellen der CDU-nahen Parteistiftung nicht, eingedenk einer verfehlten Regierungspolitik unter dem Credo „anything goes“. Was also tun?
Das vereinbarte Honorar wurde bereitwillig gezahlt, die Veröffentlichung unterblieb. Doch eine Koryphäe der Geisteswissenschaft lässt sich nicht folgenlos zensieren. Wenige Tage nach der Absage der Veröffentlichung im auflagenschwachen Magazin der Adenauer-Stiftung erfolgte ungekürzt und reichweitenstark in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und kurz danach in der Neuen Züricher Zeitung der Beitrag unter der Überschrift „Das Ende der alten Ordnung, Der Untergang des Römischen Reiches“. Sie dürfte heute zu den meistgelesenen Schriften des gebürtigen Lindheimers aus Hessen zählen.
Mit seinen 85 Jahren gehört Alexander Demandt immer noch zu den produktivsten Historikern seines Faches. Ein rundes Dutzend seiner Schüler hat er auf dem Weg zur Habilitation begleitet. Immer wieder ist seine Stimme kenntnisreich, kritisch, politisch inkorrekt und erhaben zu vernehmen und lässt auf neue Werke hoffen. Ad multos annos!