Ein Ukrainer in Putins Gulag

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Oleg Senzow ist ein ukrainischer Filmemacher und politischer Aktivist. Er war in der Endphase auf dem Maidan dabei, Majdan Nesaleschnosti, dem Platz der Unabhängigkeit, auf dem die Proteste gegen die Regierung zwischen November 2013 und Februar 2014 stattfanden. Auslöser war deren überraschende Erklärung das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union vorerst nicht unterzeichnen zu wollen. Zur Massenbewegung wurden die Proteste am 1. Dezember 2013, nachdem einen Tag zuvor eine friedliche Studentendemo durch die Spezialeinheit Berkut der ukrainischen Polizei mit exzessiver Gewalt auseinandergetrieben worden war. Die Demonstranten erreichten am Ende die Amtsenthebung von Präsident Wiktor Janukowitsch. Senzow kehrte umgehend auf die Krim, seine Heimat zurück, wo er sofort den Kampf gegen die Annexion der Halbinsel durch Russland aufnahm. Am 14. Mai 2014 wurde er zusammen mit einigen seiner Mitkämpfer verhaftet, vor ein Gericht gestellt wegen angeblicher terroristischer Tätigkeit und zu zwanzig Jahren Straflager verurteilt. Der Prozess erregte von Anfang an internationale Aufmerksamkeit. Menschenrechtsorganisationen warfen den Richtern gravierende Verstöße gegen internationale Rechtsnormen vor. Nach einer Odyssee durch russische Gefängnisse und Straflager landete Senzow im Straflager „Eisbär“ in Labytnangi, am Polarkries. Hier entschloss er sich, im Mai 2019 in den Hungerstreik zu treten, der im September 2019 dazu führte, dass Senzow durch einen Gefangenenaustausch zwischen Russland und der Ukraine freikam.

In der Zeit seines Hungerstreiks hat Senzow Tagebuch geführt.

„Den Entschluss, Tagebuch zu schreiben, habe ich am dritten Tag meines Hungerstreiks gefasst. Es ist schwierig, die Wahrheit zu schreiben, erst recht die Wahrheit über sich selbst, aber ich werde mir Mühe geben,“ Die folgenden 320 Seiten sind ein spannender Bericht, der tiefe Einsichten in den Gulag Putins vermittelt.

Wenn man Solschenizyns, Ginzburgs oder gar Schalamows Gulag-Berichte gelesen hat, fällt vor allem auf, wieviel sich in den Lagern geändert hat. Senzows Einzelzelle ähnelt denen, die man in der Gedenkstätte Hohenschönhausen besichtigen kann, nur dass es statt der Toiletten das in Russland nicht unübliche Loch im Boden gibt, das zugedeckt werden kann. Senzow hat anfangs sogar einen Wasserkessel und einen kleinen Fernseher, später auch Bücher und Schreibzeug. Anders als in vielen Gefängnissen, die er kennenlernen musste, hatte die Zelle sogar ein Fenster, durch das er nicht nur auf die Hauptlagerstraße, sondern auch ein Stück Himmel sehen konnte. Das empfand er als Privileg, denn die anderen Zellenfenster waren mit Folie undurchsichtig gemacht oder gingen auf dunkle Lichtschächte hinaus. Den Erzählton, den Senzow am Beginn anschlägt, ruhig, sachlich, jede Anklage vermeidend, hält er bis zum Schluss durch. Das macht die Lektüre fesselnd , sogar spannend, weil er eine dramatische Ausnahmesituation beschreibt, die für den Leser unerträglich werden würde. Leider kommen die Verhältnisse außerhalb seiner Zelle nur am Rand vor. En passant teilt Sentzow mit, dass die Wärter auf dem Gang bevorzugt Gangsta-Rapp hören. Aber wenn Rammstein erklingt, heißt das, dass den Neuankömmlingen eine Etage höher von den Wärtern ein schlagkräftiger Empfang bereitet wird. Wenn sie dann geschunden die Treppe heruntergewankt kommen, müssen sie bestätigen, dass es ihnen gut geht.

Senzow ist sich bewusst, dass er eine Vorzugsbehandlung genießt, weil sein Fall auf anhaltendes internationales Interesse stößt.  Sein Hungerstreik wird von Anfang an medizinisch überwacht. Zum Lagerarzt fasst er ein solches Vertrauen, dass er, als er seine ersten körperlichen Zusammenbruch hat, lieber im Lagerlazarett als im örtlichen Krankenhaus behandelt werden will. Er bekommt ständig Besuch, von Ärzten und Beamten aus Moskau, die ihn zu überzeugen versuchen, den Hungerstreik zu beenden, Selbst von einem Menschenrechtsbeauftragten, der auch für das Lager zuständig ist. Der sieht allerdings seine Aufgabe darin, Senzow klarzumachen, dass er kein politischer Gefangener, sondern ein Verbrecher sei, für den ein Gefangenenaustausch nicht in Frage käme. Regelmäßig sieht er seien Anwalt, der ihm Briefe und Nachrichten von draußen bringt. Bei der Lektüre wurde mir klar, wie wichtig es für die politischen Gefangenen ist, nicht vergessen zu werden. Internationale Aufmerksamkeit wirkt sich innerhalb der Gefängnismauern erleichternd aus. Das ist eine der wichtigen Botschaften des Buches: Jeder kann politischen Gefangenen schreiben und dafür sorgen, dass ihr Schicksal immer wieder in den Medien thematisiert wird.

Senzow konnte am Anfang seines Hungerstreiks sogar mit einer Dumaabgeordneten per Video sprechen. Seine Gesprächspartnerin war Ljudmila Narussowa, die Witwe des legendären Bürgermeisters von St. Petersburg Anatoli Sobtschak, der als Ziehvater von Wladimir Putin gilt. Kürzlich hat Narussowa wieder Aufsehen erregt, als sie in der Duma die in der Ukraine getöteten russischen Soldaten thematisierte und Putin vorwarf, dass von 100 Soldaten eines Regiments nur 4 überlebt hatten. Wenn das stimmen sollte, verifizieren lässt sich das zurzeit nicht, wäre die Putinsche Kriegsführung mit der Stalins vergleichbar.

Die enormen Verluste unter den sowjetischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg gehen darauf zurück, dass sie zum Teil waffenlos gegen die feindlichen Linien getrieben und von ihren Politoffizieren erschossen wurden, wenn sie zurückwichen. Das kann man zwar an vielen Stellen nachlesen, im Film „Enemy at the gates“ auch ansehen, aber es ist kaum im öffentlichen Bewusstsein.

Nach Narussowa spricht Senzow auch mit deren Tochter Xenia Sobtschak, dem einstigen russichen It-Girl und spätere Moderatorin und Putin-Herausforderin bei der letzten Präsidentenwahl. Es ist schon interessant, dass ausgerechnet Frau und Tochter seines politischen Ziehvaters heute zu Putins entschiedenen Gegnern gehören.

Senzow, der auf der Krim geboren wurde, leidet besonders am nördlichen Wetter. Erst ab Mitte Mai bricht das Eis des nahe gelegenen Ob auf und taut der Schnee ab und zu, der aber bis Juni immer wieder erneuert wird. Der Sommer, der kaum zwei Monate dauert, ist voller Insekten. Zu Stalins Zeiten wurden viele Hinrichtungen vollzogen, indem die Gefangenen einfach an einen Baum gefesselt und den Insekten überlassen wurden.

Warum dauerte Senzows Hungerstreik 145 Tage? Ab tag 11 bekam Senzow regelmäßig Infusionen von Glukose, Vitaminen und Salzen, die halfen, die Fastenschäden zu minimieren. Nach der ersten Fastenkrise wird er auf die Krankenstation verlegt und willigt ein, täglich drei Becher Flüssignahrung einzunehmen, um eine Künstliche Ernährung über Nase und After zu vermeiden. Erst als er nach 145 Tagen vor das Ultimatum gestellt wird, Zwangsernährung oder Abbruch des Hungerstreiks, gibt Senzow auf. Er empfindet das als Niederlage.

Irgendwann mitten im Buch schreibt er, dass sein Leben sehr ereignisreich und schwierig war, er aber dankbar dafür sei. Allerdings würde er es nicht noch einmal so durchmachen wollen.

Als sein Buch erschien, war Senzow noch in Haft. Im Vorwort schrieb der Schriftsteller Andrej Kurkow, Leser hätten sicher viele Fragen an den Autor, die sie ihm aber auf absehbare Zeit nicht stellen könnten. Zum Glück irrte sich Kurkow hier. Senzow kam im September 2019 frei. Er kehrte sofort in die Ukraine zurück und befindet sich heute sicher unter den Kämpfern, die Putin Paroli bieten. Hoffentlich so siegreich, wie seinerzeit auf dem Maidan.

Oleg Senzow: Haft



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