Es gibt viele Gründe, nach Rudolstadt zu fahren. Die Stadt selbst wirbt damit, Schillers heimliche Geliebte zu sein. Ganz falsch ist das nicht. Tatsächlich hat Schiller hier im Sommer 1787 im Haus der Familien Beulwitz und Legefeld seine spätere Frau Charlotte von Legefeld und ihre ältere Schwester Caroline von Beulwitz kennen- und lieben gelernt. Angeblich soll es sich um eine zeitweilige Ménage á troi gehandelt haben. Im Haus der Schwestern begegnete er auch zum ersten Mal Goethe, womit sein brennenster Wunsch in Erfüllung ging. Im heutigen Schillerhaus, das in alter Schönheit auferstanden ist, wie die ganze Stadt, hat man in diesem Jahr die Beulwitzschen Freitagabende wiederbelebt, wo man sich zum Parlieren und Diskutieren zusammenfand.
Über der Stadt thront die Heidecksburg derer von Schwarzburg-Rudolstadt. Der Aufstieg zum 60 Meter über der Stadt liegenden Schloss ist schon atemberaubend wegen der grandiosen Aussicht auf das reizvolle Umland. Im Schloss ist u.a. das Landesmuseum beheimatet. In seinem Gewölbesaal ist seit dem 16. Oktober 2021 eine Sonderausstellung „Neo Rauch – Das Wehr“ zu sehen. Wegen des großen Erfolgs ist die Schau, die im Januar enden sollte, bis zum 24. April verlängert worden.
Neo Rauch ist neben Gerhard Richter der wohl höchstbezahlte deutsche Maler. Wie Richter stammt er aus der DDR. Aufgewachsen in Aschersleben bei den Großeltern, weil er seine Eltern im alter von einem Monat verlor, erlernte Rauch sein Handwerk an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst. Von 1981 bis 1986 studierte Rauch Malerei bei Arno Rink, danach von bis 1990 war er Meisterschüler bei Bernhard Heisig.
Im kleinen, aber feinen Lindenau-Museum in Altenburg waren Rauchs Bilder 1986 zum ersten Mal innerhalb einer Gruppenausstellung zu sehen. Inzwischen hat er es ins Metropolitan Museum of Art geschafft. er gilt als einflußreichster zeitgenössischer Maler.
Für die in Rudolstadt ausgestellten 70 Arbeiten des Künstlers, neben einem halben Dutzend Großformaten vor allem kleine, weniger bekannte Zeichnungen aus seinem Privatbesitz, ist der Gewölbesaal der Heidecksburg der ideale Ort. Zurückhaltend und etwas geheimnisumwittert, wie ihr Schöpfer Rauch beschrieben wird, gehen Exponate und Umgebung eine Synthese ein. Die leuchtende Farbigkeit der Gemälde erhellt die Raumatmosphäre. Aufgestellte Hocker (politisch-korrekt im Corona-Abstand) ermöglichen es die Bilder in Ruhe sitzend in sich aufzunehmen.
Mich hat vor allem „Das Kollegium“ in seinen Bann gezogen. Der Teufel selbst steht mit am Planungstisch, rechts davon ein Kollege, der seine Not als Transparent auf dem Rücken trägt. Rauch ist nicht leicht zu entschlüsseln. Man lässt sich nicht ohne ein gewisses Gruseln in seine Bilder hineinziehen. Rauch selbst räumte ein, dass das Böse eine gewisse Faszination auslöst. Es ist komplexer als das scheinbar platte Gute.
Seine besondere Farbigkeit ist, was alle Rezensenten an Rauchs Werken loben. Das kann man einfach nachvollziehen. Weniger einleuchtend ist die Behauptung eines Kritikers, Rauchs Bilder wären ironiefrei. Für mich sind sie, besonders, wenn man ihre Titel einbezieht, voller hintergründigem schwarzen Humor. Das war das Erste, was mir an seinen kleinen Zeichnungen auffiel. Der „Stromer“ vor einem Hochspannungsmast, der „Spießer“ mit dem Rucksack, aus dem ein Stock ragt, der „Rebell“ mit Megafon auf dem Scheiterhaufen, die „Förderer“ vor einem Schacht, aus dem etwas mittels Seilzug gehoben wird. Diese Szenen erzählen weniger eine Geschichte, als sie die Fantasie anregen. Das alles ist mit Meisterschaft gemalt. In der Zeichnung „Profilierung“ verweben sich die Körper zweier Köpfe so kunstvoll, dass Vor- und Rückseite gleichermaßen zu sichtbar werden.
Vor dem Eingang zum Gewölbesaal läuft ein kleiner Ausschnitt aus einem Film über Neo Rauch, der mit der Frage des Malers endet: „Wer bin ich, wenn ich nicht male?“ Das kann ein Besucher am Ende seines Rundgangs natürlich nicht beantworten.
Aber man selbst ist sich in der Auseinandersetzung mit Rauchs Kunst ein Stück nähergekommen.