Der unwürdige Umgang mit Verfolgten des Stalinismus

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Über die Hetzartikel des Tagesspiegel gegen Gisela Gneist habe ich schon berichtet. Nun haben sich die Kinder von Gneist in einem Brief an Josef Schuster, den Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland gewandt. Die gute Nachricht in dieser Angelegenheit ist, dass die Stadt Oranienburg keinen Grund sieht, von der Benennung einer Straße nach der Bundesverdienstkreuzträgerin Gneist zu benennen. Ich dokumentiere einen Artikel aus dem Hohenecker Boten:

Berlin/Oranienburg, 21.02.2022/cw – „Fassungslos und schockiert“ über die gnadenlose Hetze gegen ihre verstorbene Mutter Gisela Gneist zeigen sich Tochter und Sohn der ehemaligen Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft Lager Sachsenhausen von 1945 – 1950. Die Beiden wandte sich u.a. in einem Brief an den Präsidenten des Zentralrats der Juden in  Deutschland, Josef Schuster. Letzter Anlass war ein Artikel im TAGESSPIEGEL vom 19.01. diesen Jahres von Alexander Fröhlich, in dem dieser Giselas Gneist u.a. als „rechte Aktivistin“ diffamiert hatte.

Hintergrund des zum „Skandal“ mutierten Vorgangs ist ein Beschluss der Stadt Oranienburg, im Zuge der Bebauung eines früheren KZ-Geländes, das in der NS-Zeit als Außen- bzw. Arbeitslager des KZ Sachsenhausen mißbraucht worden war, die neu entstehenden Straßen nach Frauen der Ortsgeschichte zu benennen. Einige Zeit nach dem Tod von Gisela Gneist (2007) traten die Lagergemeinschaft Sachsenhausen, die Vereinigung 17. Juni, andere Institutionen und die Kinder der Verstorbenen an die Stadt Oranienburg mit der Bitte heran, einen Straßenzug „in der Nähe des ehemaligen Konzentrationslagers“ nach Gisela Gneist zu benennen.

Als junges Mädchen vom SMT zu zehn  Jahren verurteilt

Die damals Heranwachsende war im Alter von gerade einmal 15 Jahren zusammen mit Jugendfreunden von den Sowjets unter absurden Vorwürfen verhaftet und später von einem SMT (Sowjetisches Militärtribunal) zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt worden. Erst als junge Frau konnte Gisela Gneist das neuerlich, diesmal von den Sowjets, wieder als KZ genutzte Gelände in Sachsenhausen verlassen. Weit über 10.000 Gefangene, Frauen und Männer, starben in dieser Zeit in dem 1950 endlich aufgelassenen Sowjetischen Straflager. Nachdem Gisela Gneist und ihre einstigen  Freunde von Moskau voll rehabilitiert worden waren und Gneist auf Anregung des Senats von  Hamburg das Bundesverdienstkreuz in Anerkennung ihrer Arbeit um die Aufarbeitung von Unrecht erhalten hatte, sah wohl auch die Stadt Oranienburg kein Hindernis für eine posthume Straßenbenennung.

Gleichwohl brach ein wohl gezielter, weil initiiert wirkender „Proteststurm“ los. Linke Aktivisten protestierten unter dem Mantel des „Antifaschismus“ gegen diese ungeheuerlich anmutende Ehrung einer (vorgeblichen ) Rechtsextremistin. Als „Beweise“ wurden die Mitgliedschaft von Gneists Vater in der NSdAP und die Mitgliedschaft des Teenagers im Bund Deutscher Mädchen (BDM) angeführt. Niemand unter diesen „Antifaschisten“ käme wohl auf die Idee, öffentliche Ehrungen für die langjährige Bundeskanzlerin Angela Merkel mit der Begründung abzulehnen, diese sei in der DDR-Freien-Deutschen-Jugend (FDJ) sogar als Sekretärin verantwortlich für Agitation und Propaganda gewesen. Angela Merkel hätte nach dieser Logik der Antifaschisten ein Unrechts-System aktiv gefördert.

Über Jahre ständiges Unrecht hautnah er- und durchlebt

So führen die Kinder in ihrem Schreiben an den Zentralrat auch aus, daß ihre Mutter „als junges Mädchen … über Jahre ständiges Unrecht hautnah er- und durchlebt“ habe. „Kann man ihr diese grausamen Erinnerungen verdenken und sie ex cathedra verurteilen, dass sie Verbrechen als Verbrechen benannte, unabhängig davon, wer sie begangen hat?“ Der Sohn Gerhard Gneist, Zahnarzt in Berlin, weist auch darauf hin, das unsere Mutter immer „trotz der auf dem Hintergrund ihrer sehr persönlich geprägten Geschichte stets darauf geachtet“ habe, „keinen beschönigenden Blick auf die Vergangenheit in der NS-Zeit zu vermitteln.“ Dies sei ihr „immer ein emotionales und lebenslanges Anliegen“ gewesen. Diese sehr persönliche Darstellung wird nachhaltig von Weggefährten und Freunden Gisela Gneists bestätigt.

So hatte sich die Vereinigung 17. Juni an die Bundestagsabgeordnete Domscheit-Berg (LINKE) gewandt, die in einer per Live-Block übermittelten Debatte um die Straßenbenennung Gisela Gneist wegen ihres sozialen Engagements scharf kritisiert hatte. „Gisela Gneist stand unserem sozialen Konzept persönlich und menschlich stets aufgeschlossen gegenüber und hat uns zu Lebzeiten nach ihren Möglichkeiten verbal oder persönlich – wie im von Ihnen genannten Fall – unterstützt. Es bestürzt …, wenn eine Bundestagsabgeordnete – abgesehen von der SED-Vergangenheit der zugehörigen Partei – das soziale Engagement einer Verstorbenen mißbraucht, um deren angebliche Hinwendung zu rechtsextremen Positionen belegen zu können,“ schrieb  der Vorsitzende des Vereins an Domscheit-Berg. Bei dem Genannten „handelt es sich um einen Menschen, der fast 10 lange Jahre aus politischen Gründen in der Zweiten deutschen Diktatur inhaftiert gewesen ist.“ Dieser habe „zweifellos dadurch schwere (und andauernde) traumatische Belastungsstörungen. Es gibt in der sogen. SED-Opfer-Szene immer wieder derartige Schicksale. Diese werden aus unserer Sicht leider von den entsprechenden Organisationen „aussortiert“, weil die Befassung mit Diesen vielfach als zu anstrengend und nervig gesehen wird.“ Der Umgang „mit pflegeleichten Opfern“ schaffe „nicht unnötige Probleme“, gab der Verein zu bedenken. Man nehme sich „seit mittlerweile Jahrzehnten gerade dieser Diktatur-Opfer an, weil gerade diese Menschen einer sozialen, oft psychosozialen Betreuung bedürfen.“ Es bestürze daher, „wenn eine Bundestagsabgeordnete – abgesehen von der SED-Vergangenheit der zugehörigen Partei – das soziale Engagement einer Verstorbenen mißbraucht, um deren angebliche Hinwendung zu rechtsextremen Positionen belegen zu können.“

Dombrowski: Für erneute Beschlussfassung keine neuerlichen Gründe

Auch der Vorsitzende der UOKG (Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft), Dieter Dombrowski, hatte sich bereits im Dezember 2021 an den Bürgermeister und die Fraktionen im Stadtparlament von Oranienburg mit der Bitte gewandt, „Ihren Beschluss zur Benennung einer Straße nach Gisela Gneist nicht zu widerrufen.“ Das vorliegende Gutachten  der Historiker „liefert für eine erneute Entscheidung keine ausreichenden Gründe,“ schrieb Dombrowski. „Gerade für die Generation, die ihre Jugendzeit in der NS-Zeit verbracht hat, war es nicht leicht, sich als Kinder und Jugendliche dem allgemeine Trend zu entziehen. Wenn Gisela Gneist als Mädchen beim BDM mitgemacht hat, kann ich darin keine NS-Karriere entdecken.“ 

Der UOKG-Chef fragte hypothetisch nach, wer jemals auf die Idee gekommen wäre, etwa „die Integrität von Helmut Schmidt oder Richard von Weizsäcker als (ehemalige) Wehrmachtsoffiziere in Frage zu stellen?“ Wer käme auf die Idee, „die Integrität, das Schaffen und  Wirken von Günter Grass für die Demokratie in Frage zu stellen,“ weil dieser in der Jugendzeit „kurzeitig  Mitglied in der SS war?“

Letzte Meldung: Stadt Oranienburg lehnt Widerruf der Entscheidung ab

Bei Redaktionsschluss (21.02., 20:00 Uhr) lagen allerdings noch keine Antworten auf die brieflichen Appelle, weder vom Zentralrat (Dr. Josef Schuster) noch aus dem Bundestag (Anke Domscheit-Berg) vor. Letztere hatte zumindest vor drei Wochen eine Antwort avisiert.

Nach einer kurz vor Redaktionsschluss eingegangenen Meldung von dpa ist am heutigen Montag eine Änderung des ursprünglichen Beschlusses und damit eine Neubenennung der Gisela-Gneist-Straße von der Stadtverordnetenversammlung Oranienburg abgelehnt worden. Zu Beginn der Sitzung der SVV hatte der Vorsitzende der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft, Dieter Dombrowski (CDU), eindringlich an die Stadtverordneten appelliert, bei Beurteilungen von Personen im Nachhinein stets das gesamte Leben zu betrachten. Der UOKG-Chef hatte auch darauf verwiesen, dass Gneist in den 1990er Jahren von der russischen Militärstaatsanwaltschaft rehabilitiert worden sei.



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