Dieser Blog hat sich schon mehrfach mit dem aufstrebenden jüngeren, weißen, ostdeutschen Mann Prof. Matthias Quent, seines Zeichens Direktor der Amadeo-Antonio-Stiftungs-Ausgründung IDZ, Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft, mit Sitz in Jena, Thüringen, beschäftigt.
Zuletzt habe ich seine aus meiner Sicht denunziatorischen und mit Ressentiments und Vorurteilen beladenen Einschätzungen zur Klimaforschung und zu EIKE hier diskutiert.
Jetzt hat das IDZ wieder Schlagzeilen in seinem Kernfeld, der Soziologie und Demokratieforschung geliefert. Unter dem leicht sperrigen Titel, immerhin sind wir hier in der Wissenschaft, „Politische Raumkultur als Verstärker der Corona-Pandemie? Einflussfaktoren auf die regionale Inzidenzentwicklung in Deutschland in der ersten und zweiten Pandemiewelle 2020“ hat es einen echten Knaller herausgegeben. Denn das Thema ist die Coronapandemie und die Frage, wem Quent und Co die Verantwortung für ihren Verlauf in Deutschland anhängen wollen.
Ich zitiere die Hypothese des IDZ ungekürzt – die entsprechende Veröffentlichung verlinke ich ebenfalls: „Ausgehend von der Annahme, dass in Regionen mit hohem Zuspruch zu Parteien der radikalen Rechten eine höhere Skepsis bzw. Distanz zu demokratischen Institutionen und damit einhergehend eine geringere Akzeptanz der Schutzmaßnahmen vorherrscht, prüfen wir, inwiefern sich diese Unterschiede in der politischen Raumkultur auf die Inzidenzentwicklungen auswirken.“
Ist man als neutraler Leser schon über die Chuzpe einer solchen einseitigen, vorurteils- und ressentimentgeladenen These überrascht, so ist die Herleitung noch verrückter.
Als wissenschaftlicher Stichwortgeber fungiert tatsächlich der scheidende Ostbeauftragte der alten Bundesregierung, Marco Wanderwitz. Zitat aus der Veröffentlichung: „Der Ostbeauftragte der Bundesregierung Marco Wanderwitz führte den vermuteten Zusammenhang u.a. auf die Verbreitung maßnahmenkritischer Einstellungen in der Bevölkerung zurück.“
Das IDZ rechtfertigt seine „Studie“ mit einer Wanderwitz-Referenz? Ob der gelernte Jurist und über 20 Jahre im Bundestag aktive Abgeordnete darüber erfreut ist? Ich kann es mir nur schwer vorstellen – seinen Wahlkreis hat Marco Wanderwitz jedenfalls verloren und ich bin mir sicher, dass die IDZ-Studie im Ostteil der Republik alles andere als freudig aufgenommen wird.
Bei der Ausgangslage ist man über die mit viel statistischer Rechnerei garnierten „Erkenntnisse“ der Studie und vor allem deren Schlussfolgerungen nicht weiter erstaunt.
„Unterschiede in der lokalen politischen Raumkultur tragen unseren Befunden nach maßgeblich zur Erklärung der unterschiedlichen regionalen Verläufe der Corona-Pandemie bei.“
Aber damit auch jeder versteht, was man zu denken hat, wird über die Studie in den Wissenschaftsseiten großer deutscher Medien berichtet. Pars pro toto, der Spiegel: „Je AfD, desto Corona“.
Aber es gibt auch noch Nebenerkenntnisse der IDZ-Studie (Zitat): „Auch jenseits des inhaltlichen Hauptinteresses der Studie zeigen sich mit Blick auf die Drittvariablen interessante Zusammenhänge, die im Bezug zur öffentlichen Debatte um die Ursachen und Hintergründe der regional unterschiedlichen Ausbreitungsdynamiken stehen. Auf sozioökonomischer Ebene konnte die zentrale Rolle der räumlichen Deprivation gezeigt werden.“
Auch ich musste mich hier noch mal versichern, was uns Prof. Quent & Co hier sagen wollen. Duden und andere Nachschlagwerke erklären Deprivation so:
Substantiv, feminin [die]
1.
PSYCHOLOGIE
Mangel, Verlust, Entzug von etwas Erwünschtem; Liebesentzug
2.
Absetzung eines katholischen Geistlichen
Gemeint ist sicherlich der Punkt 1. – Quent als Meister der psychologischen Deutung der deutschen und insbesondere der ostdeutschen Seele.
Solcherart wissenschaftlich gerüstet, sollten wir uns mal mit der Realität der vierten Welle auseinandersetzen („Das Schöne an Fakten ist, dass man sie prüfen kann“ – Leitspruch der Wissenschaft und auch von Wissenschaftsaktivisten gerne genommenes Zitat). Immerhin rollt momentan die bis dato höchste Corona-Welle in Deutschland. Zeigt sich also das von Quent und Co hergeleitete Muster?
Die RKI-Zahlen sind tatsächlich sehr hoch und ja, es gibt auch unter den Top 10 Landkreisen welche aus Sachsen (wo ja die AfD-Ergebnisse durchweg hoch sind).
Aber was ist mit den zwei bayerischen Landkreisen Freyung-Grafenau und Rottal-Inn? Ja, im Kreistag von Rottal-Inn gibt es auch AfDler – mit 5,8% der Stimmen erzielte die AfD 2020 drei von sechzig Mandaten im Kreistag Rottal-Inn.
Aber vielleicht sind Rottal-Inn oder Freyung-Grafenau ja auch durch „Deprivation“ charakterisiert? Liebesentzug aus München oder gar Berlin? Die Distanz zumindest zur Hauptstadt ist ja tatsächlich groß.
Aber was ist mit den Landkreisen, die momentan am wenigsten von der vierten Welle betroffen sind? Zum Beispiel Ludwigslust-Parchim mit einer 7-Tage-Fallzahl von 77 und einer 7-Tage Inzidenz von 36,3 (im Vergleich: Freyung-Grafenau: 1230 und 1569,8)? Zwar ist Ludwigslust-Parchim keine der ostdeutschen Hochburgen der AfD, aber sie ist 2019 mit 12% der Stimmen in den Kreistag eingezogen. Man braucht keine Statistik, um zu erkennen, dass AfD-Stimmenanteile oder vermutetes rechtsextremes Gedankengut nicht die Haupterklärung der regionalen Muster der Pandemieentwicklung sind.
Warum diskutiere ich diese „Studie“ so ausführlich? Natürlich gibt es räumliche Verteilungsmuster in der Pandemieentwicklung: Das ist offenkundig. Genauso offenkundig ist aber auch, dass diese nicht monokausal sind. Und dass in dieser Zeit der eh schon hochschießenden Emotionen, diese Art von Meinungsmache im Gewand von Wissenschaftlichkeit natürlich schädlich ist. Für mich führt diese Art von missbräuchlichem Einsatz wissenschaftlicher Methoden dazu, dass die Diskussion in Deutschland weiter massiv vergiftet wird. Die medialen Verstärker in den Redaktionen, gerade den Wissenschaftsredaktionen, sind natürlich mitschuldig.
Statt ergebnisoffen nach wirklich relevanten regionalen Mustern und Faktoren zu suchen und damit auch eine selbstkritische Reflexion und hoffentlich Anpassung der jeweiligen Politik und Kommunikation zu ermöglichen (Bayern!), produziert das IDZ spalterische Schlagzeilen, die dann auch noch medial verstärkt werden: Schuldverschiebungen, Unterstellungen, Ablenkungen: Eine Schande für die Wissenschaft, eine Schande für die mediale Diskussion.