Seit Peter Krause Direktor der Stiftung Schloss Ettersburg ist, hat es sich zu einem kulturellem Zentrum entwickelt, in dem man neben Musik und Literatur auch interessante Debatten erleben kann. Hier herrscht noch der freie Geist, der im kaum noch existierenden gesellschaftlichen Diskurs so schmerzlich vermisst wird.
Für den traurigen Monat November ist eine philosophische Reihe geplant. Am Sonntag, dem 7. November, wurde sie mit einer Debatte über einen der einflussreichsten deutschen Philosophen Georg Friedrich Wilhelm Hegel eröffnet. Die Diskutanten waren Jürgen Kaube (Herausgeber der F.A.Z) und Klaus Vieweg (Universität Jena). Beide haben jüngst große Hegel-Biografien vorgelegt. Moderiert wurde das Gespräch von Jan Urbich (Universität Leipzig), der aber kaum zu Wort kam.
In seiner Einleitung wies Peter Krause darauf hin, dass es kaum einen geeigneteren Ort gäbe, über Hegel zu diskutieren. Denn Goethe, der das Schloss zu seinen Lieblingsorten zählte, war ein großer Förderer Hegels. Als Hegel nach langen, öden Hauslehrerjahren in Jena eintraf und hier seinen philosophischen Urknall erlebte, sprach er natürlich sehr bald bei Goethe vor. Der fand Gefallen an dem jungen Gelehrten, der in seiner naturphilosophischen Habilitationsschrift über die Planetenlaufbahnen die Überlegungen Johannes Keplers denen Isaak Newtons vorzog. Grund dafür war wohl, dass Goethe mit seiner Farbenlehre, der er selbst „Superiorität“ gegenüber seinen poetischen Leistungen einräumte, gegen die Newtonsche Orthodoxie ankämpfen musste. Seine Förderung ging so weit, dass er Hegel nicht nur ein Gehalt verschaffte, sondern auch seine rhetorischen Fähigkeiten durch einen geeigneten Mentor verbessern ließ.
Krause zitierte Eckermann, der ein Gespräch von Hegel und Goethe am 18. Oktober 1828 dokumentierte: „Sodann wendete sich das Gespräch auf das Wesen der Dialektik. – Es ist im Grunde nichts weiter, sagte Hegel, als der geregelte, methodisch ausgebildete Widerspruchsgeist, der jedem Menschen inwohnt, und welche Gabe sich groß erweiset in Unterscheidung des Wahren vom Falschen. »Wenn nur, fiel Goethe ein, solche geistigen Künste und Gewandtheiten nicht häufig gemissbraucht und dazu verwendet würden, um das Falsche wahr und das Wahre falsch zu machen!« Dergleichen geschieht wohl, erwiderte Hegel, aber nur von Leuten, die geistig krank sind“.
Was sich dann im historischen Gewehrsaal entfaltete, war die Auseinandersetzung zwischen einem Wissenschaftler und profunden Kenner Hegels und einem Feuilletonisten, der auch viel über den Philosophen gelesen hatte. Auf die Eingangsfrage, was für sie beim Schreiben der Hegel-Biografie neu war, antwortete Vieweg, dass er sich vorher vor allem mit Hegels Denken beschäftigt und durch biografische Aspekte eine erweiterte Sicht auf ihn gewonnen hätte.
Kaube erklärte weitschweifig, dass Hegels Lebensweg ziemlich eintönig gewesen sei. Seinen Briefen an seine Frau aus dem Ausland sei nicht viel zu entnehmen.
Das konnte Vieweg nicht so stehen lassen. Er wies darauf hin, dass Hegel am Tübinger Stift am „politischen Club“ nach französischem Vorbild teilnahm. Eine Aktivität, die durchaus nicht ungefährlich war. Später, als Hauslehrer in Frankfurt, wohin er gegangen war, um Hölderlin, seinem Freund seit Stiftszeiten nahe zu sein, spielte Hegel für einen pro-jakobinischen Verschwörer den Briefkurier. Eine Tat, die als Hochverrat bewertet worden wäre, hätte man sie entdeckt. Das klingt nicht nach einem drögen Leben. Was Hegels Briefe betrifft, so geben sie viel Aufschluss über Hegels Kunstverständnis. Er beschreibt ausführlich die Galerien, Museen und Ausstellungen, die er besuchte.
An Hegels Kunstverständnis scheiden sich die beiden Diskutanten fundamental: Während Kaube moniert, dass Hegel eher Rossini und Hermes „Sophiens Reise nach Memel und Sachsen“ bevorzugt, weist Vieweg darauf hin, dass es sich bei Letzterem um einen Bildungsroman im Sinne von Laurenz Sternes „Tristram Shandy“ handelt. Das lässt den Verdacht aufkommen, dass Kaube eher als das Buch die spitze Bemerkung des Hegel-Hassers Schopenhauer kennt, der gespottet hat, dass sein Leibbuch Homer, während Hegels „Sophiens Reise“ sei.
Auch bei der Staatsauffassung gehen die Meinungen von Kaube und Vieweg weit auseinander. Während Kaube ganz zeitgeistgemäß auf die Institutionen abhebt, denen sich die Bürger unterzuordnen hätten – „für Hegel wäre Maskentragen Freiheit“, führt Vieweg aus, dass bei Hegel der Bürger Priorität hat und die Institutionen erst an zweiter Stelle kommen. Der Staat hätte die Aufgabe, die Freiheit der Bürger zu garantieren. Hegel stellt deutlich heraus, dass es vor allem auf den freien Willen ankommt. Allen Deformationen der politischen Wirklichkeit liegt ein verkrüppelter Freiheitsbegriff zugrunde. Wer Freiheit nur als Freiheit von Beschränkungen und Bestimmungen denkt, denkt Freiheit als das große Nichts. Dann wird Freiheit zerstörerisch, wie es die Französische Revolution vorgeführt hat. Was ist aber freier Wille? Einer, der „gleichgültig gegen die Bestimmtheit“ bleibt, also immer auch anders kann. Die Dialektik von Allgemeinheit und Besonderheit, die Hegel in Bezug auf den freien Willen entwickelt, ist schwer zu fassen, wie er selbst sagt. Ich habe Viewegs Buch noch nicht lesen können, bin nach seinen Ausführungen aber sicher, dass man dort eine gut verständliche Interpretation nachlesen kann.
An dieser Stelle sind die für den Dialog angesetzten neunzig Minuten längst überzogen, aber die Zuhörer sind gebannt, wie in der ersten Minute. Peter Krause wünscht sich, das Vieweg noch etwas zu den jüngsten Vorwürfen sagt, die Hegel der Verherrlichung des Kolonialismus und des Antisemitismus bezichtigen.
Das wäre ein eigener Vortrag, sagt Vieweg. Aber so viel: Die Vorwürfe beziehen sich auf Mitschriften seiner Vorlesungen, die nach seinem Tod veröffentlicht wurden, von ihm also nicht autorisiert worden sind. In seinen Originaltexten findet sich davon nichts. Im Gegenteil, dort attackiert er genau die Personen, die von den Zeitgeistsurfern als Kronzeugen für seinen angeblichen Antisemitismus und Kolonialismus ins Feld geführt werden. Leider ist es inzwischen üblich geworden, freihändig zu verurteilen, ohne Kenntnis dessen, was wirklich gesagt wurde. Vieweg hatte in einer früheren Gesprächsphase Hegel gegen den Vorwurf, preußischer Staatsphilosoph und Vordenker des Totalitarismus gewesen zu sein, verteidigt.
Diese Vorwürfe gehen vor allem auf Karl Popper zurück, der sich gerühmt haben soll, nie eine Zeile Hegel gelesen zu haben. Wenn das wahr ist, hat es leider Schule gemacht, aber solange es Menschen wie Vieweg gibt, ist die Auseinandersetzung noch nicht verloren.
Klaus Vieweg: Hegel – Der Philosoph der Freiheit
Jürgen Kaube: Hegels Welt