Nachdem die Premiere am 9. Juli buchstäblich ins Wasser fiel, startete das Theater Erfurt einen Tag darauf die diesjährigen Domstufenfestspiele mit einer fulminanten Aufführung der Tschaikowsky-Oper. Die im vergangenen Corona-Jahr ausgefallene Aufführung von „Nabucco“ findet im nächsten Jahr statt.
Der Entschluss, Tschaikowskys wenig gespielte Oper dem Verdi-Stück vorzuziehen, ist bemerkenswert. Hat es Bedenken gegeben, das Streben des jüdischen Volkes nach Freiheit aus der babylonischen Gefangenschaft im Corona 2-Jahr auf die Bühne zu bringen? Wenn ja, ist übersehen worden, dass die Botschaft der Johanna mindestens ebenso subversiv ist. Schließlich hat unser größter Freiheits-Dichter Schiller dem Komponisten die literarische Vorlage geliefert.
Tschaikowsky war auf der Suche nach einem neuen Stoff im November 1878 die kongeniale Übersetzung des Dramas ins Russische in die Hände gefallen, vorgenommen vom Wassily Schukowski, dem eine poetische Umsetzung gelungen war, die dem Original nicht nachstand. Er war begeistert und entschloss sich spontan, daraus eine Oper zu machen.
Zweifellos ist Johanna von Orleans eine der faszinierendsten Frauengestalten der Geschichte. Die 17-jährige Schäferstochter, die während des Hundertjährigen Krieges die fast schon besiegten, niedergeschlagenen Franzosen dazu bringt, neuen Mut zu fassen und dem scheinbar übermächtigen Feind zu widerstehen, dem verzagten französischen Regierungschef zur Königskrone verhilft, erst verehrt und gefeiert, dann aber fallengelassen wird, hat durch die Jahrhunderte Künstler inspiriert.
Als sich das Publikum auf dem Domplatz allmählich versammelte, knisterte die Luft vor Spannung. Nach einem Jahr Abstinenz sich wieder einem gemeinsamen Genuss hingeben zu können, auch wenn auf der Tribüne jeder zweite Platz frei bleiben musste, wurde als etwas Außergewöhnliches empfunden. Schließlich läuft die Corna-Propaganda immer noch auf Hochtouren und die Maskenpflicht im Freien wird aufrechterhalten. Im Falle der Domstufenfestspiele bedeutete das, man wurde gezwungen, das Gelände nur mit Maske zu betreten, sie aufzubehalten, bis man auf seinem Platz saß, wo man sie abnehmen durfte. Wie unsinnig diese Maßnahme ist, wurde offenbar kaum noch empfunden. Ich sah nur einen einzigen Corona-Rebellen, der schräg vor mir auf dem verbotenen Stuhl saß, weil er neben seiner Partnerin sein wollte, mit der er alltäglichen engsten Umgang pflegt. Oder sollte ich unseren Bundespräsidenten Walter Steinmeier dazu zählen, der ohne Maske seinen Sitz aufsuchte?
Was das mit dem Stück zu tun hat? Sehr viel. Johanna ist eine Außenseiterin, die sich nicht an gesellschaftliche Konventionen halten mag, wenn sie die als falsch empfindet. In der Erfurter Inszenierung ist sie, gemeinsam mit ihrer späteren Liebe Lionel, die einzige Person mit Gesicht. Die anderen Massen sind Typen mit Maske.
Das Bünenbild von Hank Irwin Kittel ist in seiner Einfachheit schon wieder großartig. Die Idee dahinter, dass eine frugale Bühne den Darstellern mehr Entfaltungsmöglichkeiten bietet, hat voll funktioniert. Am Anfang ist es nur ein kleiner Tisch, der auf der untersten Stufe des leeren Raumes steht. Er symbolisiert die Armut der Schäferhütte, in der Johanna einen „Beschützer“ in Form eines Ehemannes ablehnt sich entschließt, ihren göttlichen Visionen zu folgen. Im zweiten Akt steht der Tisch erheblich vergrößert im Palast des untätigen Regierungschefs, der ihn hauptsächlich benutzt, um sein Desinteresse an der brenzligen Allgemeinlage und sein brennendes Verlangen nach seiner Geliebten Agnes Sorel zu demonstrieren. Im dritten Akt ist er ellenlang und mit royalblauem Tuch mit goldenen Sternen bedeckt, weil der unfähige Politiker dank Johannas Siegen zum König gekrönt werden kann.
Einer ähnlichen Verwandlung unterliegen die Federn, die gekonnt eingesetzt werden. Im ersten Akt sind sie die schwarzen Utensilien der schwarz gewandeten Todesengel Johannas Schicksal vorherbestimmen, im Zweiten am französischem Hof sind sie blau und bei der Krönung golden.
Letztere Szene ist so prächtig, dass viele Zuschauer verbotenerweise ihre Handys zückten, um sie abzulichten. Später, als das Geschehen auf der Bühne immer dramatischer wurde, verschwanden sie wieder.
Das Drama entfaltet sich im zweiten Teil, nach der Pause. Als sich sah, dass die Bühne bei der Rückkehr der Zuschauer in den Regenbogenfarben beleuchtet wurde, war ich erst genervt. Warum muss eine Theatertruppe unbedingt „Haltung“ demonstrieren? Hatten wird das mit den Zwangsbekenntnissen zum Sozialismus und zum Frieden nicht erfolgreich abgeschafft?
Allerdings war ich in dem Augenblick versöhnt, als der Schalter umgelegt wurde und auf der wieder grauen Bühne die Schlacht losging. Es war ein Schock, der verstärkt wurde, durch die geniale Bewegungsregie von Amy Share-Kissow, die es schaffte, mit schwarzen Gestalten mit schwarzen Federn und ihren Schatten auf den höheren Bühnenwänden das grausame Chaos des Krieges erlebbar zu machen.
Mitten in dieser Apokalypse trifft Johanna auf Lionel, der für die Engländer kämpft. Sie lässt ihn aus Mitleid am Leben, aber auch, weil sie sich zu ihm hingezogen fühlt. Gleichzeitig weiß sie, dass diese Neigung ihr Schicksal sein wird. Sie wehrt sich vergeblich gegen ihre Gefühle, die stärker sind als ihre Gottesfurcht. An dieser Stelle muss endlich gesagt werden, wie hervorragend Anne Derouard als Johanna ihre schwierigen Partien meistert. Siyabulela Ntlale als burgundischer Ritter Lionel ist ein ebenbürtiger Partner. Die Szene, in der sich die beiden ihre Liebe gestehen, ist der absolute künstlerische Höhepunkt der Inszenierung. Während ich dahinschmolz, blickte ich zufällig in den Nachthimmel und sah unzählige Leuchtkäfer zu den amourösen Klängen tanzen. Mehr geht nicht.
Je näher Johannas Ende kommt, desto mehr Bühnenzauber gibt es. In der Liebesszene stehen Johanna und Lionel in einem Strom aus Lichteffekten. Als Johanna ihrer öffentlichen Befragung nach ihrer Jungfräulichkeit unterzogen wird, blitzt und donnert es mindesten zweimal zu viel. Danach war ich gespannt, wie man den Scheiterhaufen inszenieren würde.
Ganz anders, als erwartet. Während sich der Kreis der von allen Seiten kommenden Typen, die der Verbrennung ihres einstigen Idols beiwohnen wollen, immer enger zieht, erscheinen Schriftzüge von Johannas Namen in verschiedenen Sprachen im Hintergrund. Es kommen immer mehr dazu, sie verdichten sich schließlich zu einem erdrückenden Haufen, der tatsächlich Assoziationen zu Flammen erweckt, obwohl sie weiß bleiben. In der Mitte Johanna, an ihrer Seite der kleinen Engel, der sie durch das Stück hindurch begleitet hat und ihr im Sterben Trost spendet. Als sie tot ist, fällt der Engel und rollt die Stufen bis auf das unterste Podest herab.
Die Zuschauer sind so gebannt, dass der Beifall nur zögerlich einsetzt und längere Zeit schwach bleibt. Ich begann schon zu befürchten, dass die Aufführung durchgefallen sein könnte. Das war nicht der Fall, sondern das Publikum musste erst den Bann, unter den es von der Inszenierung gesetzt worden war, überwinden, ehe es in Jubel ausbrechen konnte. Der kam dann aber reichlich und verdient.
Nächste Aufführungen: 13.-18.7., 20.- 25.07., 28-31.07., 01.08. 2021, jeweils 20.30
Tickets hier:
https://www.viagogo.de/Theater-Tickets/Theater/Die-Jungfrau-von-Orleans-Karten/E-4635184