Das Essaybändchen, mit dem Matthias Matussek die Exil-Reihe des Buchhauses Loschwitz bereichert, widmet sich einem Typus, der nach Meinung von Botho Strauß zu Beginn des 21. Jahrhunderts „aus Gesellschaft und Literatur so gut wie verschwunden“ ist, dem Außenseiter.
So richtig die Klage von Strauß über „den Malstrom unserer Konsumgesellschaft mit ihren Konformitäten und Korrektheiten“ ist, so falsch finde ich seine Schlussfolgerung.
Wir befinden uns keineswegs am von Francis Fukuyama phantasierten siegreichen demokratischen Ende der Geschichte, sondern mitten in einem konterrevolutionären Umbruch als Reaktion auf die Friedliche Revolution von 1989/1990, die ein bis an die Zähne atomar bewaffnetes System hinweggefegt hat. Heute läuft das, was früher Klassenkampf genannt wurde, subtiler ab. Es wird viel raffinierter auf die Hirne gezielt, gemäß den Vorgaben von Marx und Engels in der „Deutschen Ideologie“:
„Die unmittelbare Wirklichkeit des Gedankens ist die Sprache. Wie die Philosophen das Denken verselbständigt haben, so mussten sie die Sprache zu einem eignen Reich verselbständigen. Dies ist das Geheimnis der philosophischen Sprache, worin die Gedanken als Worte einen eignen Inhalt haben“.
Also wird der Kampf heute gegen Begriffe, was man nicht mehr bezeichnet, kann nicht mehr gedacht werden und mit Wortneuschöpfungen geführt. Das ist nicht neu, das haben die Kommunisten schon immer getan, aber diese Methode wurde perfektioniert.
Gerade in dieser Situation der versuchten Uniformierung des Denkens und der politisch-korrekten Kontrolle aller öffentlichen Äußerungen kommt den Außenseitern eine wichtige Rolle zu.
Matusseks erstes Beispiel, Heinrich Heine hat eine ganz aktuelle Bedeutung. Kürzlich wurde ein Zitat von Heine von Facebook gesperrt. Wahrscheinlich von Algorithmen, die natürlich keine Ahnung haben, wer dieser „bedeutendste Journalist unter den deutschen Dichtern“ (Marcel Reich-Ranicki) war. In der Corona-Krise ist Heine offenbar Dynamit:
„Der Deutsche gleicht einem Sklaven, der seinem Herren gehorcht, ohne Fessel, ohne Peitsche, ja durch einen Blick. Die Knechtschaft ist in ihm selbst, in seiner Seele, schlimmer als die materielle Sklaverei ist die spiritualisierte. Man muss die Deutschen von innen befreien, von außen hilft nichts.“
Wie wahr. den aktuellen Hang der Deutschen, sich der neuen Gesundheitsdiktatur zu unterwerfen, könnte auch als Scheitern der Reeducation nach dem Zweiten Weltkrieg gesehen werden. Wie sehr sich das Land verändert hat, kann man deutlich an Matusseks Text erkennen, der im wunderbaren Fußballsommer 2006 entstanden ist. Damals schrieb er: Heine „hätte seinen Spaß an diesem unverkrampften, friedlichen Land […] in dem jeder alles sagen darf und es auch noch drucken! Tempi passati. Heine steht wieder auf der schwarzen Liste der Gedankenkontrolleure!“
Passt Georg Büchner, die Ikone der linken Weltrevolutionäre besser in die heutige Zeit? Nicht wirklich. „Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit […] Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall […] Was ist das, was in uns lügt, mordet und stiehlt?“. Schrieb das ein Revolutionär des Vormärz oder Camus, fragt Matussek. Überhaupt kann man die linke Revolutionsikone nur aufrechterhalten, wenn man unbeachtet lässt, wie viel Religion in Büchners Werk steckt. Matussek zitiert ausführlich den Büchner-Kenner Hermann Kurzke, der staunt, wie sehr die Büchner-Forschung das Gewimmel an christlicher Symbolik: Christusfiguren, Dornenkronen, Kirchenlieder Gebete, ignoriert. Für Kurzke wollte Büchner die Welt verändern, weil er Christ war. Er wurde zwar nicht alt, aber er war ein Mann und weiß. Wenn das den Gedankenjägern auffällt, landet Büchner wie Heine auf der schwarzen Liste.
Einen weitere, genauer die „Kultfigur der deutschen Literatur“ ist Friedrich Hölderlin.
Er war ebenso Stichwortgeber für Martin Heideggers Meditationen, für Stefan Georges Kunstpriestertum, aber ebenso für die linke Künstler-Elite in den siebziger Jahren des RAF-Terrors. Margarete Trottas Film „Die bleierne Zeit“ über die RAF-Schwestern bezog seinen Titel aus Hölderlins „Gang aufs Land“.
Hölderlins Deutschland war um 1800 ein Land im Umbruch „…nicht nur ein poetischer Weltwurf, sondern gleichzeitig ein philosophischer Urknall. Beides trifft auf Hölderlin aufeinander“.
Wenn man bedenkt, dass er mit Georg Friedrich Wilhelm Hegel und Friedrich Schelling im Tübinger Stift auf einer Stube war, dann bekommt man eine Vorstellung, wie sehr unser Land abgebaut hat. Heute wäre Richard David Precht allein zu haus, als Symbol des Verlustes der „intellektuellen und literarischen Neugier zugunsten einer platten Politisierung“. Oder andersherum: Wer könnte heute Hölderlin, Schelling und Hegel, selbst als Jünglinge, in einer Talkshow moderieren? Wer sie verstehen?
Rüdiger Safranski: „Bei Hölderlin ist das Offene das Göttliche, ein anderer, ein gelöster Bewusstseinszustand, bei dem erst ein wirklicher Austausch zwischen den Menschen möglich ist. Ohne das Göttliche wird es eng unter den Menschen […] Und ich befürchte, dass uns Nachgeborenen zu wenig von den Göttern ward, um ihn noch angemessen verstehen zu können.“ Ist dieses Nicht-verstehen-können der tiefere Grund, dass sich Rechte wie Linke auf Hölderlin beziehen?
Wer alle Außenseiter kennenlernen will, muss Matusseks Buch lesen. Einen will ich noch nennen, weil er seit Ewigkeiten mein Lieblingsschauspieler ist: Clint Eastwood. In „Gran Torino“ spielt er zum Niederknien. Aber natürlich nicht nur dort.
„Das Risiko, nicht nur als Außenseiter, sondern gar als Reaktionär zu gelten und sich darin auch zu behaupten, hat sich für Clint Eastwood lebensgeschichtlich und künstlerisch überraschenderweise ausgezahlt. Gegen das linke Hollywood-Establishment hat er sich Achtung und jede Menge Oskars erspielt. Matussek hat zwar auch keinen Interview-Termin bekommen, denn Eastwood lässt sich nicht interviewen, aber es gelang ihm, mit Eastwood in dessen Stammkneipe ins Gespräch zu kommen. Das fand mit Blick auf eine Schafweide statt, die längst mit einem Wohnkomplex bebaut sein sollte, aber Eastwood hat das Land kurzerhand aufgekauft, damit es bleibt, wie es ist. Nach Eastwood ist ein Reaktionär einer, „der reagiert, während andere noch stumm und willfährig bleiben“. In diesem Sinn bin ich auch ich gern Reaktionärin. Reaktionäre ändern, was sie stört. Eastwood störte, dass er in seinem Heimatort kein Eis auf der Straße essen durfte, also ließ er sich zum Bürgermeister wählen und schaffte diese Verordnung ab.
Matussek: „Es gibt keinen anderen, der seine Karriere immer wieder unter diese Idee gestellt hat: Ordnung, die ständig bedroht ist und die ständig neu wiederhergestellt werden muss.“ So ist es auch mit der Demokratie. Wir sollten uns Eastwood zum Vorbild nehmen.
Mathias Matussek: Außenseiter