Die Autorin und ausgewiesene Antikommunistin Anne Applebaum wurde bekannt durch ihre Bücher über den stalinistischen Gulag (2003), für das sie den renommierten Pulitzerpreis erhielt und über den „Roten Hunger“ in der Ukraine, mit dem Millionen ukrainische Bauern auf Befehl Stalins getötet wurden. Besonders im zweiten Buch widerlegte Applebaum mit ihrer sorgfältigen Recherche die linke Lüge, eine Hungersnot hätte es nie gegeben, oder sie sei von Missernten ausgelöst worden. Applebaum zählt sich selbst zu den Konservativen und hat hauptsächlich für konservative Zeitungen, wie den englischen „Spektator“ gearbeitet. Als bekannte Publizistin und Ehefrau des ehemaligen polnischen Außenministers Radek Sikorski gehört Applebaum zum internationalen Jet-Set, jener „transatlantischen und internationalen Elite“…“die sich auf Partys von Rupert Murdoch und teuren Dinners mit Conrad Black vergnügte.“ Sie kennt die meisten Politiker und Journalisten dieses elitären Kreises persönlich. Offenbar beunruhigt Applebaum das Auseinanderdriften dieser Elite.
In ihrem neuen Buch untersucht sie „warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist“. So unterschiedliche Persönlichkeiten wie Timothy Snyder, Spezialist für die osteuropäischen kommunistischen Gewaltherrschaften und Barack Obama, Ex-Präsident der USA, loben Applebaums Buch in den höchsten Tönen. Das macht neugierig.
Applebaum beginnt ihre Untersuchung mit der Schilderung einer Neujahrsparty, die sie mit ihrem Mann zur Jahrtausendwende in ihrem polnischen Haus gegeben hat. Die Gäste waren befreundete Journalisten aus London und Moskau, manche kamen aus New York, aber die meisten waren Polen, Freunde von Sikorski. Zwanzig Jahre später würde Applebaum die Straßenseite wechseln, wenn sie manchen ihrer Freunde von damals begegnete. Was ist seitdem passiert?
Applebaum nimmt eine Untersuchung, was den Einparteienstaat, wie er von Lenin kreiert wurde und heute in vielen Formen existiert, von modernen westlichen Demokratien unterscheidet.
„Die illiberale Einparteienherrschaft ist keine Philosophie. Sie ist ein Mechanismus des Machterhalts und verträgt sich mit vielen Ideologien. Sie funktioniert, weil sie zweifelsfrei definiert, wer der Elite angehört- der politischen Elite, der kulturellen Elite, der finanziellen Elite“. Manche Einparteienstaaten lassen sogar Oppositionsparteien zu, stellen aber sicher, dass die nichts zu sagen haben.
In westlichen Demokratien wird das Recht, zur Elite zu gehören, „zumindest theoretisch in verschiedenen Formen von Wettbewerb vergeben: im politischen Wettstreit und in Wahlen, Leistungstests, die über den Zugang zu höherer Bildung zum Beamtentum entscheiden, freien Märkten“. Demokratischer Wettbewerb ist die „gerechteste und effizienteste Methode zur Verteilung der Macht“. In den demokratischen Institutionen sollten sich die Qualifiziertesten durchsetzen. „Die Bedingungen des Wettbewerbs sollten möglichst gleich sein, um ein faires Ergebnis zu gewährleisten“.
Demgegenüber ist der bolschewistische Einheitsstaat wettbewerbs- und leistungsfeindlich. Positionen werden nicht an die Fähigsten, sondern an die Treuesten vergeben.
In einer „weichen“ Diktatur, dem Einparteienstaat mit einflussloser Opposition, braucht es keine Gewalt mehr, um die Macht zu sichern. Sie stützt sich vielmehr auf Elitekader, Behörden, Medien, Gerichte, Meinungsmacher, die Applebaum in Anlehnung an den französischen Essayisten Julien Benda „clercs“, intellektuelle Schreiberlinge, nennt. Benda hat schon in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Fehlentwicklungen, die uns heute so sehr zu schaffen machen, vorausgesehen. Schon damals haben die Schreiberlinge auf der Linken und der Rechten ihre eigentliche Aufgabe, die Wahrheitssuche, verraten und sich stattdessen politischen Interessen angedient. Natürlich gestaltet sich der Niedergang der Demokratien heute anders als vor hundert Jahren. Die polarisierenden politischen Bewegungen des 21.Jahrhunderts brauchen keine Massenbewegungen mehr, keine allumfassende Ideologie. aber sie brauchen ihre clercs, die nicht mehr gezwungen werden müssen, damit sie liefern, was gewünscht wird.
Statt der großen Lüge, verwenden sie die „mittelgroße Lüge“, wie es Timothy Snyder gegenüber Applebaum genannt hat. Sie kreieren eine „alternative Realität“, die mit Hilfe moderner Marketingtechniken, Zielgruppenanalysen und Social-Media-Kampagnen lanciert wird. Applebaum nennt als Beispiel Ungarns Behauptung, der ungarisch-jüdische Milliardär George Soros plane Ungarn durch Migration zu vernichten. Tatsächlich hat sich Soros im Krisenjahr 2015 dafür stark gemacht, dass Europa noch mehr Migranten aufnehmen sollte, als es ohnehin schon getan hat. Das Hauptziel dieser Migranten war allerdings Deutschland, nicht Ungarn, was Victor Orbán und seinen Landsleuten ganz sicher nicht entgangen ist. Es könnte also Sorge um Europa sein, was die Ungarn antreibt.
Die Lüge der Polen wäre, dass der Flugzeugabsturz bei Smolensk, dem ein Teil der polnischen Elite, die sich auf dem Weg zum Gedenktag an die ermordeten polnischen Offiziere in Katyn befand, zum Opfer fiel, kein Unfall, sondern ein Terrorakt war. Auch Applebaums Mann Sikorski hatte eine Einladung bekommen, mitzufliegen, die allerdings ausgeschlagen. Dagegen lässt Applebaum alle EU-Lügen, wie „Scheitert der Euro, scheitert Europa“, unerwähnt.
So scharfsinnig Applebaum in der theoretischen Analyse ist, so einäugig ist ihre Sicht auf die realen Verhältnisse. In einer Diskussion mit der Direktorin des ungarischen „Haus des Terrors“, Mária Schmidt, das sie selbst das innovativste Museum Europas nennt, besteht Applebaum darauf, dass die Öffnung Der deutschen Grenzen für unkontrollierte Einwanderung durch Kanzlerin Merkel ein „Akt der Hilfsbereitschaft“ sei. Die ungarische Kritik an dieser Politik lässt Applebaum nicht gelten, denn schließlich sei Ungarn nicht von der Migration betroffen. Als wäre Ungarn ein einsamer Satellit, statt Bestandteil der Europäischen Union. Der Satz: „Den Deutschen ist es doch egal, worüber sie dem Rest der Welt Vorträge halten, Hauptsache sie können jemandem Vorträge halten“ erinnert Applebaum an die Leninsche Verachtung der Demokratie. Dabei häufen sich die Äußerungen deutscher Politiker, Deutschland müsse Vorbild sein und der Welt mit guten Beispiele voran gehen.
Natürlich kennt Applebaum auch Boris Johnson schon lange persönlich. Dem Brexit widmet sie ein ganzes Kapitel. Aus ihrer Sicht hätte Johnson immer nur so getan, als sie er für den Brexit, weil er nicht an den Erfolg dieser Kampagne geglaubt hat. Wenn das zutrifft, ist es ein Beispiel für den skrupellosen Zynismus von Politikern. Das der Brexit Realität wurde, ist für Applebaum ein Beispiel für die Sehnsucht nach Autoritarismus, obwohl man es ganz anders sehen könnte, nämlich eine Flucht vor der zunehmend autoritären EU. Applebaum räumt zwar ein, dass die EU nicht ideal, teilweise auch reformbedürftig sei, insgesamt wird sie im Buch aber als Gegenkraft zu den autoritären Entwicklungen in Europa gesehen. Das ist die große Schwäche von Applebaums Untersuchung. Die EU, die eine personifizierte Inkompetenz wie Ursula von der Leyen als Kommissionschefin eingesetzt hat, die sich nicht mal auf die längst beschlossene Abschaffung der Zeitumstellung einigen kann, ist gewiss kein demokratisches Leitbild.
Die Leave-Kampagne sieht Applebaum als Beispiel dafür, dass man immer weiter lügen kann, ohne Konsequenten befürchten zu müssen. Dabei ist dieses Phänomen inzwischen global verbreitet. In der deutschen Corona-Propaganda wird weiter von „Neuinfektionen“ geredet, obwohl inzwischen sogar gerichtlich festgestellt wurde, dass der PCR-Test, mit dessen Hilfe die Zahlen generiert werden, nicht für diagnostische Zwecke geeignet ist. Es werden weiter so genannte Inzidenzzahlen zur Grundlage politischer Entscheidungen gemacht, obwohl nachgewiesen wurde, dass sie falsch berechnet werden, es werden, es werden Lockdowns verhängt, obwohl die Wirksamkeit dieser Maßnahme nicht untersucht wurde.
Applebaum hat große Vorbehalte gegen das Internet und die neuen sozialen Medien. Sie sieht darin kein Instrument der Freiheit, sondern ein Hort für Verschwörungstheorien. Die klassischen Medien hätten Aufsichtsbehörden unterstanden und einen Verhaltenskodex gehabt. Sie hätten für ein „homogenes nationales Gespräch“ gesorgt. Kein Wort darüber, dass die Medien sich kaum noch an ihren eigenen Kodex halten. Keine Begründung, warum ein homogenes nationales Gespräch wünschenswerter sei, als die gelebte Vielfalt des Internets und die Möglichkeit, sich unabhängig zu informieren.
Ausgerechnet den „Globalen Migrationspakt“ der UNO zieht Applebaum als Beispiel für die angebliche Schädlichkeit der sozialen Medien heran. Die klassische Presse hätte diesen „unverbindlichen“ Pakt kaum beachtet, dann hätten die sozialen Medien dieses Vorhaben breit bekannt gemacht und diskutiert. Aus Applebaums Sicht ist diese Kritik nichts als Verschwörungstheorie, obwohl hier die Frage angebracht wäre, warum der Weltöffentlichkeit der Inhalt dieses „unverbindlichen“ Pakts vorenthalten werden sollte.
Nein, die sozialen Medien haben die Vormacht der klassischen Presse und ihre Möglichkeit, Themen nach ihrem Gusto zu setzen und zu behandeln, gebrochen. Und das ist gut so.
Zwar erkennt Applebaum an, dass die neuen Medien auch ihre guten Seiten haben, weil es ohne sie neue politische Bewegungen, neue Diskussionsformen und Ideen nicht gegeben hätte. Aber es überwiegt ihr Missbehagen. Den Wunsch, in der Debatte die andere Seite zum Schweigen zu bringen, unterstellt sie allein den neuen Medien und übersieht, dass es längst ein Charakteristikum der klassischen Presse ist.
Noch unbehaglicher scheint es Applebaum zu sein, dass die „unsichtbare Onlinewelt“ allmählich „ein reales Gesicht“ bekommt. Sie hätte einige dieser Akteure im Februar 2020 in einem „opulenten italienischen Ballsaal“ beobachten können. Da scheint sich eine neue Elite herauszubilden, was von den Mitgliedern der alten offenbar als unzulässig angesehen wird.
Applebaum ist eine zu gute Wissenschaftlerin, um nicht auch reale Gefahren zu sehen: Cancel-Culture, Extremismus an den Universitäten, überzogene Behauptungen der Vertreter der Identitätspolitik seien eine „politische und kulturelle Herausforderung und es ist echte Courage gefragt um sich dem entgegenzustellen“.
Am Schluss ihres Buches geht Applebaum noch auf die Corona-Krise ein: „In der Vergangenheit mussten Pandemien immer wieder als Vorwand dafür herhalten, um die Macht des Staates auszuweiten. Wenn Menschen den Tod fürchten, halten sie sich an Maßnahmen, von denen sie sich Schutz versprechen – ob zu Recht, oder nicht – selbst wenn es einen Verlust an Freiheit bedeutet […] Vielleicht gebiert die Furcht vor der Krankheit, eine Furcht vor der Freiheit. Vielleicht schafft das Coronavirus aber auch ein neues Gefühl der weltumspannenden Solidarität. Vielleicht werden wir unsere Institutionen erneuern und modernisieren“.
Keine Elite herrscht ewig. Auf keinen Fall sollten wir in Apathie verfallen, weil „Apathie den Geist tötet und die Seele auffrisst“.
„Die Gewaltenteilung der demokratischen westlichen Verfassungen hat nie eine dauerhafte Stabilität garantiert. Freiheitliche Demokratien haben ihren Bürgern immer etwas abverlangt: Teilnahme, Diskussion, Einsatz und Auseinandersetzung […] Sie haben immer gewusst, dass wir dabei auch scheitern können. Auch haben wir immer gewusst, […] dass die Geschichte wieder in unser Leben eingreifen und es auf den Kopf stellen kann […] Aber vielleicht werden wir auf dem Weg durch die Finsternis feststellen“, das wir gemeinsam widerstehen können.
Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
Anne Applebaum: „Die Verlockung des Autoritären“