Dreißig Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, der, wie wir jetzt wissen, nicht zum Ende der Geschichte, zum globalen Sieg der Demokratie geführt hat, befindet sich Europa in tiefen Turbulenzen und Selbstzweifeln. Wenn man sich die Frage stellt, wie es dazu kommen konnte, ist eine nahe liegende Antwort, dass die Geschicke Europas nach dem Zweiten Weltkrieg von einer Generation gestaltet wurden, die von einer heute kaum noch vorstellbaren Gewalterfahrung geprägt war.
Dieses Thema ist von betroffenen Literaten aufgegriffen worden. Für Deutschland seien nur Siegfried Lenz, Arno Surminski, Walter Kempowski, aber auch Christa Wolf genannt. Kaum in den Blick genommen wurde die Tatsache, dass diese Generation ihre Traumata mehr oder weniger verdeckt und unbewusst an ihre Nachkommen weiter gegeben hat. Noch die Enkel leiden an den Folgen. Das wird erst allmählich erkannt und thematisiert. Es ist das große Verdienst von Sabine Rennefanz, sich dieses prägenden Problems in ihrem neuen Roman „Die Mutter meiner Mutter“ angenommen zu haben. Kaum hatte ich die ersten Seiten dieses Buches gelesen, konnte ich es nicht mehr aus der Hand legen. Nur unterbrochen vom unumgänglichen Nachtschlaf habe ich es in einem Zug ausgelesen.
Die Erzählerin, die starke autobiografische Züge der Autorin trägt, wuchs in dem kleinen Dorf Kosakenberg in Brandenburg auf. Die Bezugsperson ihrer Kindheit ist ihr Großvater. Für sie ist er der John Wayne des Landes mit den drei Buchstaben.
„In dem Land meiner Kindheit standen überall Skulpturen aus Bonze herum, die kräftige stolze Arbeiter zeigten, mit geballter Faust und stolzem Blick. Mein Großvater hätte für eine dieser Skulpturen Modell stehen können…Wenn er lachte, legte sich die Haut um seine Augen in viel kleine Fältchen, die ich sehen konnte, wenn er mich hochhob.“ Dieser Großvater pfiff auf vier Fingern Liedchen für seine Enkelin, ließ sie mit dem Pferd zur Schule reiten, brachte Köstlichkeiten aus der Kreisstadt mit, oder fuhr mit ihr dorthin zum Einkaufen. Wenn er nach zwölf bis manchmal vierzehn Stunden Arbeit auf den Feldern nach Hause kam, räumte er das stehengebliebene Frühstücksgeschirr weg, bereitete das Abendessen zu und kümmerte sich auch sonst um Haus und Hof.
Dagegen blieb die Großmutter oft bis zum Mittag liegen und trug auch danach wenig zum gemeinsamen Haushalt bei. Der Großvater schlief im Doppelbett, seine Frau auf der Couch im Wohnzimmer. Das war so alltäglich, dass niemand in der Familie Fragen stellte. Auch das die Großmutter kaum das Haus verließ, körperliche Berührungen scheute, ihren Mann nie mit Namen ansprach, war so gewohnt, dass es keine Verwunderung hervorrief.
Großmutter Anna war als Flüchtling ins Dorf zwangseingewiesen worden, wo sie bald bei einer kinderlosen Familie als Magd Anstellung fand. Sie wurde verköstigt, durfte auch Essen für ihre Brüder mitnehmen, bekam aber keinen Lohn. Großvater Friedrich war das uneheliche Kind einer einarmigen Schneiderin und geriet als Soldat in sowjetische Kriegsgefangenschaft.
„Über die Sowjets redete er nie schlecht. Er lobte die sowjetischen Ärzte und Schwestern, die ihm im Lazarett das Leben gerettet hätten. Er erzählte von eisigen Nächten. Im Dunkeln kamen die Wölfe und schauten durch die Fenster in die Baracke…In seinen Geschichten kamen die Sowjetmenschen als verschrobene, aber liebenswerte Figuren vor, die den ganzen Tag Wodka tranken, abends in ihren Häusern auf dem Ofen tanzten und ihr letztes Brot mit den Deutschen teilten. Es klang, als sei die Gefangenschaft die beste Zeit seines Lebens gewesen.“
Nur die nächtliche Schreie, mit denen seine Albträume endeten, passten nicht zur Erzählung.
Als dieser lebenszugewandte Mann starb, besuchte die Erzählerin häufig sein Grab, um mit ihm Zwiesprache zu halten.
Dann bekam sie einen Anruf von ihrer Mutter, zu der sie nie ein inniges Verhältnis hatte, dass es im Leben ihres Großvaters ein dunkles Geheimnis gab. Er hatte, obwohl verlobt und kurz vor der Heirat stehend, das Flüchtlingsmädchen Anna vergewaltigt, die war schwanger geworden, hatte sich, als die Schwangerschaft bald nicht mehr zu verheimlichen war, im Weiher ertränken wollen.
Sie kehrte um, offenbarte sich ihren Arbeitgebern, denen sie inzwischen ans Herz gewachsen war und heiratete auf deren Druck ihren Vergewaltiger. Warum sie einwilligte, lässt sich nur aus ihrer Außenseiterposition im Dorf erklären, wo sie als „Polin“ galt, obwohl sie Deutsche war und aus ihrer Mittellosigkeit. Der Vergewaltiger wurde gezwungen, für sie und das Kind zu sorgen, was er auch tat. Aber die Ehe war für beide ein Horror. Die Mutter der Erzählerin erfuhr erst mit sechzig Jahren, dass ihre lebenslangen Albträume zu ertrinken daher rührten, dass ihre Mutter schon bis zum Hals im Wasser gestanden hatte, ehe sie ihr Vorhaben aufgab. Sie hat später den Fehler ihrer Mutter wiederholt, einen Mann zu heiraten, der nicht zu ihr passte. Ihrer Tochter riet sie, nie zu heiraten und keine Kinder zu bekommen. An dieser Stelle habe ich mich gefragt, ob sie mit diesem Rat nicht ihr Trauma in veränderter Form weiter gegeben und ihrer Tochter die freie Wahl, wie sie ihr Leben gestalten will, unmöglich gemacht hat.
Rennefanz hat mit ihrem Roman eine aufschlussreiche Milieustudie geliefert, die hilft zu verstehen, was die Nachkriegsgenerationen geprägt hat. Es ist der Autorin zu wünschen, dass sie sich mit diesem Buch von ihren ererbten Traumata befreien konnte. Auf jeden Fall aber hilft sie ihren Lesern, unsere Geschichte und sich selbst besser zu verstehen.
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