Briefe aus Katyn

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Das Massaker von Katyn gehört zu den größten Kriegsverbrechen des 2. Weltkrieges. Auf direkten Befehl von Stalin wurden zwischen dem 3. April und dem 11. Mai 1940 etwa 4400 Kriegsgefangene, Generäle, Offiziere und Soldaten in einem Wald bei Katyn, einem Dorf 20 Kilometer westlich von Smolensk, erschossen. Das war Teil eines Massenmordes an 22.000 bis 25.000 Berufs- oder Reserveoffizieren, Polizisten und Intellektuellen, die zu den Vorkriegseliten der Zweiten Polnischen Republik gehörten. Die schiere Zahl lässt die individuellen Menschen mit ihren Sehnsüchten und Hoffnungen verschwinden. Nach den ersten polnischen  Exhumierungen der Leichen im Jahr 1945 wurden sieben Schädel ans Institut für Rechtsmedizin in Breslau gebracht. Bei der Untersuchung stellte sich heraus, dass einer der Schädel einer Frau gehörte. Aus Angst vor dem NKWD und den polnischen Sicherheitsbehörden wurde diese Tatsache nicht bekannt gemacht. Erst im Mai 1997 wurde das Geheimnis enthüllt. Die polnische Schriftstellerin Maria Nurowska hat dieser Frau und ihren Kameraden in ihrem neuen Roman „Briefe aus Katyn“ ein Gesicht gegeben. Sie erzählt die Geschichte einer ungewöhnlichen Frau, der Pilotin Janina Lewandowska, Europameisterin im Fallschirmspringen, rebellische Tochter des Generals Dowbor-Musnicki, eines der erfolgreichsten und geachtetsten Militärs Polens.

Bei Kriegsausbruch bietet Janina Lewandowska ihre Flugfähigkeiten der polnischen Armee an, wird aber, kaum hat sie die passende Einheit erreicht, von den vorrückenden sowjetischen Truppen gefangen genommen. Maria Nurowska erzählt ihre Passion in Form von Tagebuchaufzeichnungen, die Janina Lewandowska im Gefangenenlager als Briefe an ihren Mann angefertigt hat. Mieroslaw Lewandowski, auch Flieger, flog mit Kameraden den ersten Einsatz der polnischen Luftwaffe gegen die angreifende Wehrmacht. Er wurde abgeschossen, konnte aber notlanden und sich verwundet in Sicherheit bringen.

Im Roman gibt es zwei Erzählstränge: Die Berichte von Janina aus dem Lager und vom letzten Transport nach Katyn und die Flucht Mieteks aus dem besetzten Polen nach Frankreich, seine Teilnahme am Luftkampf gegen die Deutschen in England und seine Suche nach Janina nach Kriegsende.

Dank der hohen Erzählkunst von Nurowskas, bekommt man nicht nur eine gute Vorstellung von den Zuständen im sowjetischen Kriegsgefangenenlager, sondern auch vom Schicksal der polnischen Freiwilligen in der britischen Armee. In Frankreich abgekommen erlebt Mietek, wie schlecht das Land auf den Krieg vorbereitet, und wie gering seine Lust ist, sich zu verteidigen. Frankreich kann mit polnischen Freiwilligen nichts anfangen. Mietek wird deshalb weiter nach England geschickt, wo er nach vielem Hin und Her mit anderen Polen in speziellen Verbänden in die Kampfeinheiten der Royal Airforce eingegliedert wird. Trotz ihrer Verdienste will das Königreich nach Kriegsende die Polen so schnell wie möglich wieder loswerden. Sie werden gedrängt, nach Polen zurückzukehren, obwohl das inzwischen zum sowjetischen Einflussbereich gehört und die Angehörigen der Heimatarmee, die im Untergrund gegen die deutsche Besatzung gekämpft haben, brutal verfolgt werden. Wer bleibt, ist Bürger zweiter Klasse und bekommt keine Arbeit, oder nur eine Tätigkeit, die von den Briten verschmäht wird. Dies gehört zu den nach wie vor unaufgearbeiteten Geschichten des Zweiten Weltkrieges, der erst wirklich überwunden sein wird, wenn die ganze Wahrheit bekannt ist.

Die vorletzte Station von Janina ist Koselsk, eine kleine Stadt im Oblast Kaluga. Drei Kilometer von Koselsk entfernt befindet sich das russisch-orthodoxe Kloster Optina Pustyn, benannt nach dem Räuber Opta, der hier im 15. Jahrhundert als Makarios (russisch Makari) eine Einsiedelei gründete. Der Ort war für seine Schönheit berühmt. Er zog viele berühmte Persönlichkeiten an, wie Nikolai Gogol und Fjodor Dostojewski, aber auch Rasputin, der unheimliche Mönch, was Janina schreiben lässt: „Hoffentlich ist es kein verfluchter Ort“. Nach der Oktoberrevolution 1917 wurde das Kloster geschlossen, 1987 der Russisch-Orthodoxen Kirche zurückgegeben und wiedereröffnet. Bei Wikipedia findet man keine Erwähnung, das in der Zwischenzeit das Kloster vom NKWD als Lager genutzt wurde.

Die Verhältnisse im Kloster waren von grauenvoller Enge geprägt. An die 500 Männer schliefen in einem Saal in dreistöckigen Pritschen. Die Luft war zum Schneiden dick und der Gestank, der von Körpern ausgeht, die kaum gewaschen werden können, ist kaum erträglich. Janina bekommt einen eigenen Verschlag unter einer Treppe, was sie als großes Glück empfindet. Außerdem trägt sie ihren Piloten-Overall, der sie vor der grimmigen Januarkälte schützt. Das Essen ist knapp bemessen, aber erträglich. Im Lagerkiosk kann man Lebensmittel einkaufen, wovon die inhaftierten Gebrauch machen können, denn man hatte ihnen nicht das Geld abgenommen.

Hier ist tatsächlich die Blüte der polnischen Intelligenz versammelt. Es gibt Vorträge, Lesungen, Konzerte, Diskussionen, Seminare, Sprachkurse. Die Lagerleitung duldet all diese Aktivitäten, weil sie helfen, die Gefangenen ruhig zu halten. Alle Gefangenen werden sorgfältig registriert und ausgiebig verhört. Als Janina dran ist, stellt sie fest, dass der NKWD-Offizier ganz genau weiß, wer sie ist, obwohl sie versucht hat, mit falschen Angaben ihre Identität zu verschleiern.

Bei der Exhumierung ihrer Leichen hat man zahlreiche Tagebücher, Briefe und andere Aufzeichnungen der Ermordeten gefunden. Manche Notizen reichen bis zum Erschießungsplatz. In diesen Aufzeichnungen wird Janina, die „Fliegerin“, häufig erwähnt. Ihre Würde, mit der sie die Gefangenschaft ertrug, ihre Bereitschaft, Mithäftlingen in seelischen Krisensituationen zu helfen oder Kranke zu pflegen, waren bald legendär. Sie wurde im Lager von den Generälen wegen ihrer vorbildlichen Haltung feierlich zum Unterleutnant befördert.

Häufig wird auch ein kleiner Hund erwähnt, der Janina zugelaufen war und der bald zum Liebling der Gefangenen wurde. Wegen seiner Neigung, den Wärtern an die Hosenbeine zu gehen, durfte er nicht frei herumlaufen. Kurz vor der Deportation gelang es ihm, zu entwischen. Auf der Suche nach Janina lief der Hund einem NKWD-Offizier über den Weg, den er prompt attackierte, was er mit dem Leben bezahlte.

Es war immer klar, dass es sich bei diesem Kloster um ein Durchgangslager handelte. Der Hautgesprächsstoff bestand also darin, was die Sowjets mit ihnen machen würden. Die Generäle waren überzeugt, dass alle bald entlassen, oder den Alliierten übergeben werden würden. Die Polen konnten nicht ahnen, dass die Alliierten kein Interesse an ihnen hatten.

Anfang April begannen die Deportationen. Kurz zuvor hatte es eine allgemeine Impfung gegen Cholera gegeben, was die Zuversicht verstärkte, dass sie übergeben oder entlassen werden. Warum sollte man die teuren Impfungen sonst verschwenden? In Wahrheit handelte es sich um ein perfides Täuschungsmanöver, um die Gefangenen ruhig zu halten. Jeden Tag gingen nun Transporte ab. Einige russische Offiziere boten an, die Wertsachen der Gefangenen aufzubewahren, damit sie beim Transport nicht beschädigt würden.

Janina war am 21. April an der Reihe. Sie musste mit ihren Kameraden einen Waggon für Viehtransporte besteigen, der jetzt von den Sowjets für Gefangene benutzt wurde. Sie bekamen keinerlei Auskunft, wohin die Reise ging. Am Morgen des 22. April sahen sie goldene Kuppeln in der Morgensonne glänzen, von denen einer der Gefangenen wusste, dass sie zur orthodoxen Kirche von Smolensk gehörten.

„Wir waren alle sehr aufgeregt, als es uns gelang, aufgrund der Richtung, in die der Schatten fiel, unsere Fahrtrichtung zu bestimmen: Nordwesten. Kameraden, rief jemand, wir fahren nach Polen.“ Aber nach wenigen Kilometern hielt der Zug erneut, diesmal auf freier Stecke. Das Aussteigen begann. Die Gefangenen standen auf freiem Feld, das schon den Geruch des Frühlings ausstrahlte. Die Sonne schien. Es war wunderschön.

Dann kamen die seltsamen Busse mit den übermalten Fenstern. Beim Einsteigen wurden den Gefangenen Uhren, Füllfederhalter, Eheringe und andere Wertgegenstände abgenommen. Ein Offizier hatte seine Uhr in weiser Voraussicht ins Mantelfutter eingenäht. Da wusste Janina, dass sie gerade ihr „zweiunddreißigstes Wanderjahr in dieser Welt“ begonnen hatte, als sich der Bus in Bewegung setzte. Man hat sie an ihrem Geburtstag erschossen. Erst im November 2005 wurde ihr Schädel im Grab ihrer Familie in Lusowo in allen Ehren beigesetzt.

Maria Nurowska: Briefe aus Katyn



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