Das Adventswunder von New York

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Nein, man muss nicht unbedingt nach New York fliegen, um sich das Nussknacker-Ballett von Peter Tschaikowski anzusehen, schließlich gibt es jedes Jahr in Deutschland zur Adventszeit wunderbare Inszenierungen des russischen Balletts zu sehen, und auch deutsche Versionen müssen sich nicht verstecken.

Aber wer sich in der Adventszeit in New York aufhält, sollte die Aufführung des New York City Ballet nicht verpassen.
 
Die Truppe wurde 1946 vom Choreografen George Balanchine, geboren als Georgi Melitonowitsch Balantschiwadse, ein Russe mit georgischen Wurzeln, gemeinsam mit Lincoln Kirstein, der Balanchine nach New York geholt hatte, gegründet. Damit wurde die Welt des Balletts verändert.
 
Balanchine führte die Kompanie mit seinem neuen, modernen Stil bald zur Weltgeltung. Die Idee war, jungen Tänzern die Gelegenheit zur Profilierung zu geben.
Als er aber ankündigte, ausgerechnet Tschaikowskis Nussknacker nach vielen Tanzszenen als erstes Vollballett aufzuführen, war die Fachwelt überrascht. Der Nussknacker war nach seiner Premiere 1892 nie richtig beim Publikum angekommen. Außerdem war das Ballett nach all den abstrakten, neoklassizistischen Choreografien Ballanchines das klassische Gegenstück. Mehr alte Ballettschule war kaum möglich.
 
Aber Balanchine, der als Student in St. Petersburg in dem Stück getanzt hatte, war überzeugt, dass der Charme der deutschen Weihnachtsgeschichte nach E.T.A. Hoffmanns Nussknacker und der Mäusekönig das Publikum begeistern würde. Er behielt recht. Die Aufführung ist seit 1954, also bald 70 Jahren, ein Kassenmagnet. Mehr noch, die New Yorker Aufführung machte Schule. Weltweit wurde der Nussknacker wieder auf den Spielplan gesetzt. Die letzte Inszenierung hatte ich vor einem Jahr in Nowosibirsk gesehen und war begeistert.

In New York sitzt man für 116$ in der Nachmittagsvorstellung im vierten Rang, aber wenigstens in der Mitte, mit gutem Blick über die Bühne. Das Haus ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Über dem vierten ist noch ein fünfter Rang. Das Publikum ist jung, das liegt nicht nur an den vielen Familien mit Kindern, sondern viele Jugendliche interessieren sich für die Aufführung. Welch ein Anblick, wenn man das 60+ Publikum von Deutschland gewohnt ist!

Dabei ist die Inszenierung, die seit 70 Jahren unverändert ist, ganz klassisch. Bühnenbild und Kostüme entsprechen der Märchenwelt. Die verstörenden Elemente der Hoffmann-Geschichte sind bei Tschaikowski abgemildert. Kein Kind bekommt Albträume wegen des Mäusekönigs und seiner grauen Soldateska. Sowieso wird er ja vom Nussknacker besiegt. Dann bricht der Zauber aus und aus dem Nussknacker wird ein Prinz, der aber aussieht, wie der Neffe des Lieblingsonkels der Hauptheldin Marie. Was Kinder begeistert ist, dass Kinder als Hauptpersonen in dem Stück auftreten und jedes Kind die Handlung ohne Schwierigkeiten verstehen kann.

Das ist besonders leicht im zweiten Teil, wo Marie und der Prinz im Land der Süßigkeiten ankommen. Sie werden von der Zuckerfee begrüßt und zu einem Thron geleitet, wo sie sich an den süßen Köstlichkeiten gütlich tun können.

Von nun an tanzen alle Bewohner des Zuckerlandes für sie: Schokolade aus Spanien, Tee aus China, Kaffee aus Arabien, Zuckerstangen, Marzipanfiguren und die Ingwer-Mutter mit ihren acht Polichinellen. Dann kommt der Walzer der Blumen, mit ihren Tautropfen und zum Schluss das Pas de deux der Zuckerfee und ihres Kavaliers! Alle diese Tänze scheinen nur gemacht, damit die Tänzer ihre heraustragende Kunst demonstrieren können. Das Publikum kommt aus dem Beifall-Klatschen kaum heraus.

Wenn die Nachmittagsvorstellung von der zweiten Besetzung getanzt wurde, fragt man sich, wie die erste das in der Abendvorstellung übertreffen könnte. Schöner kann Tschaikowskis gloriose Musik nicht interpretiert werden!
 
Als wir das Theater verließen und durch den Central Park zur 5th Avenue liefen, tönte das Nussknacker-Motiv am Rockefeller Center durch die Luft. Es begleitete die Weihnachtsshow an der Fassade eines Kaufhauses, die von hunderten Zuschauern mit glänzenden Augen verfolgt wurde.

In New York liegen höchste Kunst und gnadenloser Kommerz dicht beieinander.

Tanz der Blumen und der Schneeflocken:

Für alle, die nicht nach NY kommen: Der Nussknacker in Berlin



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