Vierter September 1989
In Leipzig findet im Anschluss an das Friedensgebet in der Nikolaikirche die erste Montagsdemonstration statt. Noch sind es nur ein paar Dutzend Menschen, die von der Kirche aus über den Ring, an der „Runden Ecke“, dem hiesigen Stasihauptquartier, vorbei bis zum Bebelplatz laufen, wo sie sich nach einer kurzen Ansprache in alle Winde zerstreuen. Die beobachtenden Stasileute haben keine Ahnung, dass aus diesem kleinen Schneeball innerhalb von wenigen Wochen eine Riesenlawine wird, die nicht nur ihre Firma, sondern die ganze DDR verschlingt.
Walter Kempowski liest in Berlin im „Historischen Museum“ aus „Echolot“. Davor fährt er zur Mauer an der Leipziger Straße. „Ich stand eine Weile allein auf dem Aussichtsturm und kämpfte mit Dankbarkeitstränen. Ich empfand den Ort wie die Stelle, an denen siamesische Zwillinge zusammenhängen. Die chaotische Unordnung der Mauer auf unserer Seite, mit Bemalungen, Unkraut und verworfenem Pflaster, steht im Gegensatz zum geharkten Schussfeld drüben. Eine Türkenfrau, die Brennesselblätter sammelte. Eine zugemauerte Kirche.“
Wie gründlich diese Bilder vergessen sind.