Zweiundzwanzigster Juni 1989
Der Druck des Westens zeigt Wirkung: Martin Notev, der vor einigen Tagen trotz geglückter Flucht vom Westberliner Spreeufer zurück in die DDR geschleift wurde, kann in die Bundesrepublik ausreisen. Natürlich hatte sich die DDR zuvor die „Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten“ verbeten, dann aber nachgeben müssen, weil die eklatante Verletzung von Menschenrechten eben keine „innere Angelegenheit“ ist.
Das finden auch die vielen hundert Demonstranten vor der Chinesischen Botschaft in Ostberlin. Sie protestieren gegen das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Die Volkspolizei geht mit aller Schärfe gegen die Demonstranten vor. Die wehren sich. Es gibt bei den Verhaftungen zahlreiche Verletzte. Später, bei den Vernehmungen, schlagen die Stasileute auf die Verhafteten ein.
Außer in Berlin wird auch in Potsdam und Dresden demonstriert.
Während die unteren Chargen auf den Straßen Prügelorgien veranstalten, werden die Chefs vom Staatschef geehrt: Erich Honecker befördert und ernennt Generäle der Volkspolizei.
Walter Kempowski beklagt in seinem Tagebuch die fehlende Diskussionskultur in der BRD: „Man muß erleben, wie in unseren Talkshows, wie in den Zeitungen nur immer die eine von Schwachköpfen kanonisierte Meinung gilt. Jegliche Differenzierung wird sofort zertrampelt. Abweichende Meinungen werden zu Waffen gegen den, der sie äußert, nicht zu Denkangeboten.“
Daran hat sich bis heute nichts geändert.