Gedanken zu „100 Jahre Soziologie
an der Goethe-Universität Frankfurt“
von Gastautor Josef Hueber
GESCHICHTE LEBT – ABER NICHT IN ZAHLEN
Es war einmal ist schon im Unterricht an der Schule nicht der große Renner unter Schülern, um das Interesse am Fach Geschichte zu wecken. Zahlen auswendig lernen (zu meiner Zeit pädagogischer Schwerpunkt zur Förderung historischen Verständnisses) fördert kein Interesse an und kein Verständnis für die Bedeutung der Vergangenheit und schon gar nicht von deren Bedeutung für die Gegenwart. Nicht zufällig gehen Historiker, aber auch der historisch gebildete Normalbürger, beim Nachdenken über historische Ereignisse, der Frage nach, ob sich nicht Vieles wiederholt. „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“ liest man schon im Alten Testament, einer Quelle zeitloser Weisheiten. Da scheint was dran zu sein. Und ein bekanntes Zitat von G. Santayana lautet: „Wer sich seiner Vergangenheit nicht erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.”
DIE STRITTIGE FRAGE DER WIEDERHOLUNG
Der Versuchung, beim Blick zurück allzu schnell Parallelen oder gar Identisches herzustellen, dürfen Historiker freilich nicht unterliegen. Deswegen begeben sie sich, gerade in Zeiten des Umbruchs, wie der heutigen, auf die Suche nach historischen Mustern, die, cum grano salis, in der Gegenwart wieder auftauchen, ohne Identisches zu suggerieren. Wie man an zwei Beispielen sieht, kommen die Interpreten dabei zu unterschiedlichen Ergebnissen.
Leonid Luks, Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, fragt sich, angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen in Europa: „Kehren die 30er Jahre zurück?“. Den russischen Exilhistoriker Fedotow zitierend, glaubt Luks nicht an pessimistische Untergangsprophetien, wie sie sich heute für manche Betrachter abzeichnen. Luks Fedotow referierend: „Der Glaube an ein unausweichliches Schicksal, amor fati, sei dem Christentum fremd. Der Niedergang der christlichen Kulturen sei nicht schicksalsgegeben.“ (ebd.) Und er kommt zu dem Schluss: „Fedotows mahnende Worte aus dem Jahr 1939 bleiben bis heute aktuell.“
Sarah Honig, jüdische Journalistin und ehem. Politikanalytikerin bei der israelischen Jerusalem Post, sieht die Gegenwart in einem anderen historischen Licht: „Ich habe den anhaltenden Eindruck, dass wir eine neue Version der dunklen 1930er Jahre im 21. Jahrhundert durchleben. In meiner Jugend war ich sehr zuversichtlich, dass sich der Holocaust und die abgründig böse Indoktrination, die ihm vorausging, nie wiederholen würden. Jetzt habe ich diesbezüglich noch nicht einmal mehr eine kleine Hoffnung.”
DIE PROVOKATION DER GESCHICHTE
Die Frage der Wiederholung bzw. Übertragbarkeit historischer Entwicklungen beiseite legend, mag man festhalten: Es ist frappierend, wie Historisches immer wieder Anlass gibt, die Gegenwart zu beleuchten und sie schlussfolgernd zu reflektieren. Wenn dann noch ein aktueller Anlass dazukommt, ist es angebracht, Parallelen auf ihre Tauglichkeit zu überprüfen.
Anlässlich des Jubiläums „100 Jahre Soziologie an der Goethe-Universität 01.04.2019“ liegt es nahe, Bedenkliches, wie es gegenwärtig an besagter Universität in Frankfurt offenkundig wurde, daraufhin hin zu überprüfen, ob es nicht einen Vorlauf gibt, der als warnendes Beispiel gelten darf.
DIE PROVOKATION OFFENEN DENKENS
Und man wird fündig. Das „Kesseltreiben“ (J. Kraus) gegen die Professorin Dr. Schröter an der Goethe-Universität anlässlich einer angekündigten, kritischen Tagung über das muslimische Kopftuch, mit der Fragestellung „Symbol der Würde oder Unterdrückung?“ rief unter Studenten eine Reaktion hervor, die es verdient, im historischen Kontext interpretiert zu werden. Sie verlautbarten: „Wir Studierenden […] sind schockiert, dass Prof. Dr. Susanne Schröter eine Konferenz […] stattfinden lassen kann […].Wir können das nicht weiter dulden und fordern deshalb, dass die Veranstaltung […] abgesagt wird und Prof. Dr. Susanne Schröter ihrer Position enthoben wird.“ (Zitiert nach J.Kraus)
AUS DEM RÜCKBLICK RÜCKSCHLÜSSE ZIEHEN
In einem Beitrag anlässlich des 100sten Geburtstags des Soziologie-Lehrstuhls berichtet die Deutsche Welle von einem Interview aus dem Jahr 1969 mit dem berühmten Theodor Adorno. Er betonte, er „habe einfach das Glück gehabt, dass ihm nicht schon als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni kritisches Denken abtrainiert worden sei.“
Originalton Adorno: „[…] ich es also nach wie vor riskiere, ungedeckte Gedanken zu denken, die sonst von diesem übermächtigen Kontrollmechanismus, der da Universität heißt, den meisten Menschen schon sehr früh […] abgewöhnt werden. Und es zeigt sich nun dabei, dass die Wissenschaft selber durch diese Kontrollmechanismen in den verschiedensten Bereichen so kastriert und so steril wirkt.“
ERST STUDIEREN, DANN PROTESTIEREN
Die Studenten einer Universität, die den Namen des größten deutschen Dichters trägt, täten gut daran, sich mit der Geschichte des freien und unfreien Denkens an deutschen Universitäten zu beschäftigen. Die Zeit dafür wäre sinnvoller verwendet als mit dem Verfassen von Protestschriften, die nichts anderes präsentieren als die eigene Intoleranz und Ignoranz.